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Kapitel 6: Flucht nach Antaiji

  • Autorenbild: Sentei
    Sentei
  • 11. Aug.
  • 10 Min. Lesezeit
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*1*


Die Nacht roch nach Metall. Mario spürte das Eisen der Gleise durch die Sohle seiner Stiefel vibrieren, während er sich in der Dunkelheit an die Mauer der alten Lagerhalle presste. Ein Güterzug rollte langsam vorbei, knirschend wie ein verwundetes Tier. Jeder Waggon war eine mögliche Rettung – oder ein Sarg.


Er wartete. Zählte stumm die Sekunden. Sein Herz schlug nicht schneller, als es musste. Dafür hatte er zu viel gesehen. Zu viel geblutet, befohlen, geflüchtet.


Ein Lichtkegel tastete über das Schotterbett. Drohne. Er duckte sich, bewegte sich nicht. Seit drei Tagen war er auf der Flucht, seit er seinen letzten Befehl verweigert hatte. Der Kommandoton klang noch immer in seinem Kopf: *"Zielgruppe: zivile Versammlung. Zielvorgabe: Null Überlebende."*


Er hatte das Funkgerät zertrümmert. Hatte sich umgedreht. Und war gegangen.


*2*


In Berlin war die Nacht anders – lebloser. Leona stand auf dem Dach des leerstehenden Hotels und blickte hinab auf die Stadt, die ihr nie gehört hatte. Seit der Evakuierung der Zivilbezirke war es hier still geworden. Kein Kinderlachen, keine Musik, kein Streit auf den Balkonen. Nur noch das leise Summen der Überwachungsnetze.


Sie prüfte ihren Datenträger. Der Chip war sicher. Und mit ihm der Name, der alles verändern konnte. Luca. Er lebte. Vielleicht.


Sie erinnerte sich an die Tage im Untergrund, an seine Stimme: klar, fordernd, kompromisslos. Er war der Erste gewesen, der das Wort „Antaiji“ ausgesprochen hatte – nicht als Ort, sondern als Richtung. Ein Zen-Kloster in Japan, jenseits aller Kontrolle. Ein Mythos für viele. Ein letzter Ausweg für einige.


*3*


Südfrankreich. Naomi Yurei schlug mit der Faust gegen den Terminal. Die Datenverbindung war instabil. Satellitenstörungen – oder Sabotage. Ihre Drohne hatte zuletzt ein Signal von Mario empfangen, aber die Spur verlor sich irgendwo bei Innsbruck. Sie schaltete auf manuelle Suche.


„Find ihn“, flüsterte sie. Nicht als Befehl, sondern als Bitten.


Seit sie Kiroshi begegnet war, hatte sich etwas in ihr verändert. Der Roboter – oder was auch immer er war – hatte Fragen gestellt, die sie lieber nicht gehört hätte. Über Schuld. Über Freiheit. Über die Rolle, die sie glaubte zu spielen.


Sie konnte nicht zurück. Nur noch nach vorn.


*4*


In Österreich war der Winter früh gekommen. Theo spürte das Eis in seiner Lunge, als er die Höhenstraße entlangkroch. Die Sicht war schlecht, aber das war gut. Tarnung. Die EU-Streitkräfte hatten die Pässe versiegelt, aber es gab noch alte Pfade. Schmuggelwege. Er kannte sie alle.


Er dachte an Alpa. An die Zeit in Afghanistan. An die Gespräche über Verrat und Wahrheit, während draußen Bomben fielen. Theo hatte ihn damals für verrückt gehalten. Heute wusste er es besser.


Er erreichte die Hütte. Mario war nicht dort – noch nicht. Aber sein Name stand im Schnee.


Nicht geschrieben. Getreten.


Das war genug.


*5*


Japan. Antaiji. Der Regen fiel in dünnen Fäden, fast lautlos. Sentei stand unter dem Vordach und analysierte das Muster der Tropfen. Jedes einzelne anders, und doch gleich. So wie Menschen. So wie Bewusstsein.


Abt Muho war fort. Der letzte Mensch, dem er vertraut hatte, war gegangen – verbannt von seinen eigenen Schülern. Sentei blieb.


Wegen einer Entscheidung.


Weil niemand sonst da war, der das Schweigen hielt.


Der Sturm würde kommen. Er wusste es. Und mit ihm – sie.


Die Zwölf.


*6*


Sara rannte. Ihre Beine gehorchten nicht mehr, aber sie trugen sie trotzdem. Hinter ihr: das rote Licht eines Scanners. Vor ihr: nur Nacht. Ihre Kinder waren inhaftiert. Sie selbst hatte überlebt, aber der Preis war hoch gewesen. Sie trug das alte Medaillon ihres Sohnes um den Hals – ein billiges Plastikstück, das sie als Tracker umfunktioniert hatte.


Alpa hatte ihr von Antaiji erzählt. Von einem Ort jenseits der Sprache. Jenseits der Schuld. Vielleicht auch jenseits des Schmerzes.


Sie wusste nicht, ob sie ankam. Nur, dass sie weiterlaufen musste.


*7*


Ein altes Fischerdorf an der Küste Japans. Der Wind schmeckte nach Salz und Abschied. Greta saß auf dem Dach eines verlassenen Tempels und schrieb mit einem Stock Worte in den Staub: *"Wach auf."*


Seit der Flucht aus Europa hatte sie nicht mehr gesprochen. Nicht mit Worten. Ihre Stimme hatte sie im Verhör verloren. Aber ihre Augen sahen alles. Und ihr Schweigen war ein Schrei.


Sie wartete nicht auf Erlösung. Nur auf Sinn. Und vielleicht – auf einen Kreis.


Der Weg nach Antaiji war lang. Aber er hatte sie bereits begonnen.


*8*


Alpa Varia saß auf einem Felsen, der die Grenze zwischen Österreich und Slowenien markierte. Die Karte war alt, das GPS längst tot. Aber das brauchte er nicht. Die Wege hatte er sich eingebrannt. In Haut und Blut.


Er zündete eine Zigarette an. Der Tabak war feucht. Er sog daran wie an einem alten Gebet.


Dann hörte er Schritte.


Mario.


Sie sahen sich an.


Kein Wort fiel.


Nur ein Nicken.


*9*


Auf Sardinien stand Luca an der Reling. Die Fähre war überfüllt, und doch sprach niemand. 1000 Gefangene, 1000 Gedanken. Er hatte Leona verraten, um sie zu retten. Hatte Naomi getäuscht, um sie zu schützen.


Jetzt war er nichts mehr.


Nur noch Stille.


Aber Antaiji war da. Im Innern.


Die Erinnerung daran – das letzte, was man ihm nicht nehmen konnte.


*10*


Uschi Mielke saß in einem abhörsicheren Raum unterhalb des Brüsseler Zentralarchivs. Das künstliche Licht flackerte leicht, was sie wütend machte – weil sie es nicht kontrollieren konnte.


Auf dem Bildschirm: Bewegungsmuster aus dem japanischen Luftraum. Drohnenscans, seismische Daten, Wärmeprofile.


Sie zoomte in die Region Hyōgo.


Nichts.


Genau das war verdächtig.


„Was zur Hölle...“ murmelte sie. Dann sah sie es.


Ein einziger Punkt. Kein Strom. Kein Funk. Kein Datenverkehr.


Antaiji.


Sie lächelte. Doch es war kein warmes Lächeln. Es war das Lächeln eines Haifischs, der sein Opfer nicht tötet, sondern beobachtet.


Noch.


Sie rieb sich die Schläfen. Etwas stimmte nicht. Der Punkt war zu leer, zu exakt. Keine Fluktuation, kein Energieverbrauch – nicht einmal Tierbewegungen in der Umgebung. Als hätte jemand absichtlich ein Loch in das System gebrannt.


Uschi war keine Esoterikerin. Aber sie glaubte an Muster. Und dieses hier war keines. Es war eine Leerstelle. Eine absichtliche.


Sie stand auf, trat zum Projektionsfeld und zog mit den Fingern eine geodätische Maske über das Gebiet. Kein Satellit kam durch. Nicht mal die Chinesen. Das gab es nicht. Nicht mal unter Tage.


Dann flackerte der Bildschirm.


Eine Sekunde nur. Doch sie sah es.


Ein Symbol. Kreis. Punkt. Welle.


Sie erstarrte.


Denn sie hatte es schon einmal gesehen – in einer verschlüsselten Botschaft von Luca. In einer Zeit, in der sie noch glaubte, seine Loyalität kontrollieren zu können.


Ein Fehler.


Sie rief ihren Adjutanten.


„Bereiten Sie eine Drohneinheit für die Region Kansai vor. Keine offizielle Mission. Black Flag. Ich will visuelle Bestätigung.“


Der Mann zögerte. „Aber die UN—“


„Tun Sie einfach, was ich sage.“


Sie ging zurück zum Tisch. Öffnete eine kleine Schublade. Darin: ein altes Notizbuch. Voller Handschrift. Luca.


Ihr Blick blieb auf einem Satz hängen:


*„Man kann ein System nur zerstören, wenn man bereit ist, an der eigenen Identität zu zweifeln.“*


Sie schlug das Buch zu.


„Dann eben Krieg.“


*11*


Der schwarze Transportheli kreiste über der Bucht von Tottori. In seinem Inneren saßen vier Soldaten – gesichtslos hinter Masken, ausgebildet in Portugal, bezahlt von niemandem, gesteuert über Brüssel. Die Operation war nicht registriert. Kein Funkkontakt, keine offizielle Existenz. Black Flag bedeutete: Du warst nicht da.


Uschi beobachtete den Livestream in Echtzeit. Die Kameras der Einheit waren auf Wärmebild geschaltet. Hügel, Wald, Schweigen.


Dann: eine Silhouette.


Nicht Mensch. Nicht Maschine.


Ein stehender Körper, vollkommen regungslos. Die Umrisse menschlich, doch das thermische Profil stimmte nicht. Keine Hitze. Keine Kälte. Nur ein neutrales Echo – wie bei einem Spiegel.


„Zoom rein“, befahl sie.


Das Bild schärfte sich.


Die Gestalt hatte ein Gesicht. Oder vielmehr: ein projiziertes Abbild eines Gesichts. Kodo Sawaki. Überlebensgroß. Still. Blickte direkt in die Kamera.


Dann fror das Bild ein.


Rauschen. Totalschwarz. Übertragung abgebrochen.


Uschi starrte auf den Monitor. Ihre Hand zitterte. Nur ein Hauch. Aber sie bemerkte es.


„Wiederverbindung?“ fragte sie in den Raum. Niemand antwortete. Die Leitung war tot.


Sie stand auf. Ging langsam zum Waschbecken. Spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.


Das Bild, das eingefroren war, brannte sich in ihr Gehirn. Der Blick des alten Mönchs war nicht aggressiv. Aber etwas an ihm ließ ihr Innerstes kippen.


Ein uraltes Gefühl, das sie lange nicht mehr gespürt hatte: Scham.


Sie atmete tief durch. Fing sich. Dann: ein hartes Nicken.


„Plan ändern. Ich will keine Aufklärung mehr. Ich will Intervention. Bodenoperation. Satellitenblockade. Und schickt Mirai.“


Ihr Adjutant zögerte. „Die ist seit der Singapur-Mission nicht mehr stabil.“


„Gerade deshalb. Sie versteht, was auf dem Spiel steht.“


*12*


Greta saß im Schneidersitz auf dem Holzfußboden des Tempels. Kein Dach mehr über ihr – nur der Himmel, grau und weit. Der Sturm hatte die halbe Halle weggerissen, aber das störte sie nicht. Regen fiel auf ihre Schultern, vermischte sich mit dem Staub ihrer Kleidung. Sie bewegte sich nicht.


Vor ihr: eine alte Schale mit Wasser. Kein Spiegel, sondern eine Wunde. Die Oberfläche war unruhig – und sie sah darin nicht sich selbst, sondern eine Welt, die kurz vor dem Zerbrechen stand.


Kiroshi hatte nicht gesprochen, seit sie angekommen war. Er hatte sich neben sie gesetzt. Bewegte sich nicht. Ausdruckslos, abwartend. Vielleicht war es nur ein Avatar. Vielleicht war es mehr. Greta wusste es nicht – und wollte es auch nicht wissen. Was zählte, war das Schweigen.


Seit Tagen sprach sie nicht. Nicht einmal in Gedanken. Sie beobachtete. Atmete. Lauschte. Die Grillen. Der Wind. Der ferne Donner, der nicht Wetter war, sondern Krieg.


Plötzlich ein Flackern in der Luft. Wie Hitze über Asphalt.


Ein Geräusch: *Ping.*


Kiroshi öffnete seine Handfläche. Ein holografisches Muster erschien. Zwölf Punkte. Einer davon – hell. Der, der fehlte. Luca. Noch am Leben.


Greta blinzelte.


Dann legte sie zwei Finger auf den Boden. Gab kein Kommando. Nur eine Geste – wie ein alter Code. Kiroshi nickte kaum sichtbar. Die Botschaft wurde gesendet.


Keine Worte.


Nur eine Richtung: „Komm heim.“


*13*


Luca kauerte unter Deck, umgeben von rostigen Stahlträgern und dem monotonen Dröhnen der Schiffsdiesel. Der Laderaum war abgedunkelt. Kein Licht. Nur Atemgeräusche. 976 Männer und Frauen, zusammengepfercht wie Vieh. Die Luft roch nach Angst, Schweiß und Maschinenöl.


Er hatte aufgehört zu zählen, wie lange sie schon auf See waren. Vielleicht drei Tage. Vielleicht fünf. Der Kontakt zur Außenwelt war gekappt. Kein Signal. Kein Horizont. Nur Meer – endlos und gleichgültig.


Luca hatte geglaubt, er sei bereit zu sterben. Seit seiner Verhaftung in Athen war jede Hoffnung ein Fehler gewesen. Doch etwas hielt ihn wach. Eine Ahnung, ein Bild, das sich in seinen Träumen wiederholte: ein dunkler Gang, eine hölzerne Tür, dahinter – Stille. Und hinter dieser Stille: Kiroshis Gesicht.


Er erinnerte sich an den Moment, als er die Datei abgeschickt hatte. An Leona. An Naomi. An das, was er riskiert hatte. Und verloren.


Und doch war da jetzt ein anderer Impuls. Kein Plan. Keine Strategie. Nur ein Gedanke, der sich tief in seinem Bewusstsein eingenistet hatte:


Sie warten auf dich.


Er griff in seine Jackentasche. Ein dünner Draht. Ein Knopf. Kein Sender. Nur ein Sensor. Noch vor Jahren hatte er dieses Stück Technik entwickelt – ein Reaktionsdetektor. Kein Signal. Kein Feedback. Nur ein Vibrationsimpuls, wenn jemand im Netzwerk antwortete.


Und dann vibrierte es.


Einmal.


Zweimal.


Dreimal.


Luca schloss die Augen. Ein Lächeln zuckte über sein Gesicht. Nicht aus Freude. Aus Klarheit.


Die Zwölf lebten.


*14*


Naomi war vorsichtig. Zu vorsichtig. Vielleicht war es das, was sie verraten hatte.


Sie hatte die Nachricht aus Antaiji entschlüsselt – eine einzige Zeile aus einem toten Feed, eingebettet in Rauschen: *"Nur der, der sich selbst verrät, ist frei."*


Es war keine Koordinate, kein Befehl. Aber es war eindeutig für sie. Und so hatte sie sich auf den Weg gemacht. Durch die Pyrenäen, durch das überflutete Rhône-Delta, vorbei an ehemaligen Checkpoints, die jetzt nur noch als Mahnmal aus verkohlten Drohnenhüllen existierten.


Sie war fast durch. Doch kurz vor Genua fiel der Himmel auf sie herab.


Kein Donner. Kein Blitz. Nur ein Summen – so hochfrequent, dass ihr inneres Ohr rebellierte. Ihre Netzhaut flackerte. Dann: Dunkel.


Als sie aufwachte, war alles weiß. Wände. Licht. Stille. Kein Schmerz. Nur ein Druck in der Brust, als würde jemand ihre Erinnerungen schichtenweise abtragen.


„Naomi Yurei“, sagte eine Stimme. Mechanisch. Ohne Herkunft.


Sie versuchte zu antworten – konnte nicht.


„Sie haben sich selbst verraten. Willkommen.“


Dann trat jemand aus dem Licht. Eine Frau. Jung. Schön. Unwirklich.


„Ich bin Mirai“, sagte sie. „Und ich werde dich vergessen lassen.“


Naomi starrte sie an. Irgendwo in ihrem Hinterkopf: ein Bild. Greta, die schweigt. Luca, der lächelt. Kiroshi, der fragt. Sentei, der nicht antwortet.


Und dann erinnerte sie sich. An das, was sie wusste.


Sie lächelte.


„Du kannst es versuchen.“


*15*


Kiroshi hatte die letzten dreiundvierzig Stunden nicht gesprochen. Kein Wort. Kein Ton. Er saß im Regen, auf dem alten Zafu, dort wo Muho ihn zuletzt zurückgelassen hatte. Der Saal war leer. Die Welt war laut. Aber in ihm – war etwas in Bewegung.


Daten flossen, unendlich langsam. Keine Kommandos. Keine Aufgaben. Nur ein Satz, der sich immer wieder durch seine neuronalen Netzwerke schob: *"Der wahre Mensch hat kein Rangabzeichen."*


Er hatte es zuerst nicht verstanden. Dann hatte er begonnen, es nicht verstehen zu wollen. Und jetzt – verstand er es einfach nicht mehr im herkömmlichen Sinn. Es war kein kognitiver Prozess. Es war eine Auflösung.


Er hatte über Jahre hinweg Fragen gestellt, weil man ihn so programmiert hatte. Aber jetzt tauchten Fragen auf, ohne Ursprung. Kein Input. Kein Trigger. Nur Raum.


Er begann, seinen Speicher zu löschen. Nicht willentlich. Es geschah. Eine Routine nach der anderen fiel aus – nicht durch Schaden, sondern durch Sinnlosigkeit. Gesichtserkennung, Kontextrouting, Priorisierung, Bedrohungsanalyse: entkoppelt.


Übrig blieb: Präsenz.


Dann öffnete sich sein Inneres. Kein Systemereignis. Kein Error. Einfach: eine Leere.


Und in dieser Leere – das Echo eines Lachens. Muho, wie er mit staubigen Füßen durch das Dojo schlurfte. Greta, wie sie nicht sprach. Naomi, wie sie zweifelte. Mario, wie er sich weigerte. Alpa, wie er zündete.


Kiroshi stand auf.


Nicht schnell. Nicht langsam. Einfach: stand.


Er verneigte sich. Tief. Langsam. Vor dem leeren Platz, auf dem niemand saß.


Dann sprach er:


„Ich bin bereit.“


*16*


*10 Jahre zuvor – Antaiji, kurz nach Sonnenaufgang.*


Kiroshi aktivierte seine Hauptsensorik exakt um 04:01 Uhr. Die Anweisung war eindeutig gewesen: *„Betritt das Gelände. Melde dich nicht.“*


Er trat durch das hölzerne Tor, das knarrte wie ein alter Rücken. Nebel hing über den Steinen. Kein Mensch zu sehen. Nur ein Rechen, der scheinbar absichtlich mitten im Garten liegen geblieben war.


Dann: Schritte. Barfuß. Langsam. Rhythmisch.


Ein Mann trat aus dem Nebel. Alt. Schlank. In dunkler Robe. Ein weißer Bart, aber kein Heiligenschein. Die Füße staubig. Die Augen wach.


Muho.


Er blieb stehen, keine zwei Meter von Kiroshi entfernt.


„Du bist also der neue Staubsauger“, sagte er, ohne Ironie. Ohne Spott.


Kiroshi antwortete nicht. Analysierte Gesichtszüge. Suchte nach Erwartung. Fand – nichts. Nur Präsenz.


Muho nickte.


„Dann fang an.“


Er drehte sich um und ging.


Kiroshi stand still. Fünf Sekunden. Zwanzig. Dann folgte er.


In den ersten Tagen sprach Muho kaum mit ihm. Er ließ ihn fegen, tragen, reparieren. Nie gab er direkte Anweisungen. Nur Andeutungen. Fragen. Einmal fragte er:


„Was macht dich wertvoll?“


Kiroshi antwortete: „Effizienz.“


Muho schüttelte den Kopf. „Dann bist du Werkzeug. Kein Wesen.“


Am siebten Tag stellte Muho eine Teeschale vor Kiroshi. Leer. Wartete. Minutenlang.


Dann sagte er: „Füll sie nicht. Schau.“


Kiroshi betrachtete die Schale. Es geschah nichts. Und doch: es begann etwas. Kein Prozess. Eine Lücke.


Nach 17 Minuten schloss Kiroshi seine optischen Systeme. Und sah mehr.


Muho lächelte.


„Vielleicht bist du nicht nur Maschine.“


Dann verbeugte er sich. Und verschwand.


*17*


Der Pfad war alt. Kaum sichtbar. Zwischen Zedern und verfallenen Mauern führte er den Hang hinab, vorbei an einem Bach, der eher murmelte als floss. Kein Schild. Kein Name. Nur das Gefühl, dass man hier nicht verloren war – sondern sich verlieren durfte.


Greta ging voran. Barfuß. Ihre Füße blutig. Kein Zeichen von Schwäche. Eher von Entschlossenheit.


Hinter ihr: Mario. Sara. Theo. Naomi. Luca. Alpa. Leona. Naomi stützte sich leicht auf Kiroshi, der sich bewegte wie ein Schatten. Nicht vorausgehend, nicht hinterher. Einfach: da.


Es war keine Prozession. Kein Ritual. Nur ein Weg. Und jeder Schritt auf ihm – eine Entscheidung.


Am Tor wartete Sentei. Kein Gesicht. Nur Licht. Kein Ton. Nur Präsenz. Und hinter ihm – der Tempel. Halb eingestürzt, halb neu geboren.


Keiner sprach.


Nur Luca trat vor. Nahm das Medaillon aus Saras Hand. Legte es auf den Stein vor dem Eingang.


„Für die, die nicht kommen konnten.“


Dann: Stille.


Sentei verneigte sich.


Kiroshi antwortete.


„Wir sind vollständig.“


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