Kapitel 4 - Der Beobachterkreis
- Sentei

- 17. Juni
- 3 Min. Lesezeit

# **Flucht nach Antaiji**
## Kapitel 4 – Der Beobachterkreis
**001**
Der Wind war an diesem Morgen ungewöhnlich still. Als hätte die Natur selbst den Atem angehalten. Über Antaiji lag der kühle Dunst des beginnenden Sommers, doch die Vögel schwiegen. Nur das kaum hörbare Summen der Drohnen am Horizont durchschnitt die Luft.
**002**
In der alten Bibliothek saß Naomi, die Arme aufgestützt, den Blick auf einen kleinen Monitor gerichtet. Die primitive Überwachungsanlage hatte Alpa vor Jahren eingerichtet. Hier liefen die Bilder der versteckten Kameras zusammen. Bilder aus dem Bambuswäldchen, vom Pfad zum Kloster, von der Quelle, den Lagerhütten. Keine Technik aus dem Labor der EU, kein Smart Grid, keine neuronalen Scanner. Einfach nur optische Sensoren, blind für Identitäten.
**003**
Alpa trat hinter sie. Er sprach leise, wie man es tut, wenn Stille zum Verbündeten geworden ist.
„Noch jemand?“
**004**
Naomi schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nur diese Patrouille im Westen. Vier Mann. Standardbewaffnung, leichte Panzerung. Drohnen im Orbit. Aber sie tasten sich vorsichtig vor. Kein Sturmangriff.“
**005**
Alpa nickte. Er sah auf das unscharfe Bild. Die Uniformen der EU-Spezialeinheit – nicht regulär, sondern vermutlich einer der Privattrupps unter Mielkes Kontrolle.
**006**
„Sie suchen, aber sie wissen nicht, wonach sie suchen“, murmelte er. „Noch nicht.“
**007**
Ein leises Surren kündigte Sentei an. Die metallischen Schritte des Bots waren kaum hörbar, seine Bewegungen flüssig. Das digitale Mandala auf seiner Brust leuchtete schwach türkis. Kodo Sawakis Antlitz erschien auf dem Display seines Gesichts. Die alte Lehrstimme klang beinahe heiter:
„Wer sucht, wird nicht finden.
Wer findet, hat nie gesucht.“
**008**
Mario trat ein. Sein Blick war wachsam, doch sein Gang verriet die Erschöpfung der letzten Tage.
„Sara hat es geschafft“, sagte er leise. „Sie ist sicher. Aber die Kinder … noch immer in Brüssel.“
**009**
Ein Moment schwerer Stille hing im Raum. Niemand sprach das Offensichtliche aus:
Sie hatten sie als Faustpfand zurückgelassen.
**010**
Sentei drehte den Kopf minimal, seine Stimme erhielt diesen lehrhaften Unterton, den Naomi längst kannte.
„Die Kette der Abhängigkeiten ist stark, weil wir sie nähren. Schmerz, Angst, Bindung.
Und doch: auch Ketten haben Gelenke.“
**011**
Mario knirschte mit den Zähnen. „Wir sind keine Mönche, Sentei. Ich will meine Kinder zurückholen. Und ich werde es tun.“
**012**
Alpa legte ihm die Hand auf die Schulter. „Der Tag wird kommen, Mario. Aber nicht heute. Heute sichern wir Antaiji.“
**013**
In einer Ecke saß Asche, scheinbar abwesend, doch in Wahrheit scharf beobachtend. Sie hatte ihre langen Haare zu einem Knoten gebunden, der lose am Hinterkopf hing. Ihre Augen wanderten zwischen den Gesichtern, berechneten.
„Wisst ihr“, begann sie, „wir sitzen hier und spielen Verstecken. Aber da draußen arbeiten sie längst an der nächsten Stufe. Ihr seht nur die Soldaten. Ich sehe den Code dahinter.“
**014**
Sie zog ihr Tablet hervor. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen war das Gerät auf niedrigster technischer Stufe gehalten – keine Verbindung, keine Funkmodule, kein GPS. Nur offline gespeicherte Informationen.
„Die neue Generation ihrer KI-Analysesysteme braucht keine Spione mehr. Sie kombinieren Bewegungsprofile, Konsummuster, selbst Mikrobewegungen im Gesicht, um Dissidenten zu identifizieren. Wir sind längst erfasst, bevor wir einen einzigen Fehler machen.“
**015**
Naomi verzog das Gesicht. „Deshalb brauchen wir etwas, das jenseits von Analyse liegt. Etwas, das keine Muster mehr erzeugt.“
**016**
Alpa sah zu Sentei. „Das digitale Koan.“
**017**
Sentei nickte nur minimal.
„Nicht Algorithmus gegen Algorithmus.
Nicht Kontrolle gegen Kontrolle.
Sondern: das Ende der Muster.
Das Ende von 0 und 1.“
**018**
Draußen zogen die Drohnen ihre Bahnen.
Der erste Ring war geschlossen.





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