

Kapitel 5: Kleshas – Die Triebfedern
Warum wir innerlich nicht zur Ruhe kommen
Einführung:
Das Unsichtbare, das uns antreibt Wenn du in fokussiert sitzt, ganz still, atmend, lauschend – was kommt zuerst? Oft ist es nicht Frieden, sondern Unruhe. Gedanken, die aufspringen wie Affen, die von Ast zu Ast springen. Gefühle, die drängen, ohne erkennbaren Grund. Eine rastlose Energie, die etwas will – oder etwas ablehnt.
Woher kommt dieses innere Drängen?
Im Buddhismus spricht man von den Kleshas – geistigen Trübungen oder „Leidenschaften“, die den Geist in Bewegung halten. Sie sind nicht äußere Hindernisse, sondern innere Motoren des Leidens. Gier, Hass und Verblendung wirken in uns, oft subtil, oft getarnt – aber immer aktiv. Sie sind die tiefsten Kräfte im Spiel der Reaktivität. Und solange sie unbewusst bleiben, steuern sie unser Leben.
Diese Kleshas sind nicht „böse“. Sie sind alte Überlebensprogramme. Doch in der modernen Welt erzeugen sie mehr Leid als Schutz. Wer sie erkennt, kann sie nicht mehr einfach leben – und beginnt, aufzuwachen.
1. Was sind Kleshas – und warum sollte mich das interessieren?
Das Wort Klesha stammt aus dem Sanskrit und bedeutet wörtlich „Trübung“, „Verwirrung“ oder „Störung“. Gemeint ist eine Art innerer Schleier, der klares Sehen unmöglich macht. In der indischen Philosophie bezeichnet man damit mentale Kräfte, die den Geist verunreinigen und daran hindern, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.
Ähnlich sehen es die Sufis, eine spirituelle Gruppierung im Islam, wenn sie sagen:
"Zwischen Dir und Allah sind tausend Schleier, zwischen Allah und Dir ist kein Einziger."
Im Pali-Kanon spricht der Buddha nicht immer direkt von „Kilesa“ (Pali-Form von Klesha), sondern beschreibt konkret, wie sich diese Kräfte manifestieren: als Anhaftung, Ablehnung, Nichtwissen.
Die drei Haupt-Kleshas sind:
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Gier (lobha) – das unstillbare Verlangen
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Hass (dosa) – die emotionale Ablehnung
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Verblendung (moha) – die geistige Blindheit
Sie bilden die Wurzelstruktur fast aller negativen Geisteszustände: Neid, Eifersucht, Stolz, Angst, Trägheit, Arroganz – sie alle sind Varianten oder Mischformen dieser drei Grundgifte. Es sind nicht nur Emotionen, sondern ganze Denk- und Reaktionsmuster. Sie erzeugen Identität. Sie sagen dir, wer du glaubst zu sein.
2. Gier (lobha): Die unersättliche Suche
Gier beginnt oft harmlos. Es ist dieses kleine Ziehen: „Noch ein bisschen mehr.“ Mehr Sicherheit, mehr Anerkennung, mehr Ruhe. Doch das Problem ist: Gier kennt kein Genug. Sie sagt nicht: „Jetzt bin ich zufrieden.“ Sie flüstert ständig: „Fast… aber noch nicht ganz.“
Wir erleben über die Medien, dass es Menschen gibt, die den Ranzen nie voll kriegen. Sie sind reich, doch reicht das nicht. Als Normalbürger denkt man sich: "Hey, die haben doch schon alles, wozu noch eine Villa, warum noch ein Privatjet zur Privatyacht. Sie sind ein Beleg dafür, dass die Gier kein Ende nimmt und die erhoffte Erleichterung langfristig ausbleibt, sich sogar in noch mehr Gier ausbreitet. Mit dem Reichtum entstehen neue Probleme. Das Vermögen muss auch geschützt werden,
Auf der Ebene des Körpers zeigt sie sich als Appetit, auf der psychischen Ebene als Begierde, und spirituell sogar als „Suche nach Erleuchtung“. Ja, auch der Wunsch zu erwachen kann Gier sein – wenn er dich unruhig macht, dich treibt, dich unzufrieden sein lässt mit dem Hier und Jetzt.
Die Gier will „haben“. Sie will besitzen, kontrollieren, fixieren. Doch alles, was sie bekommt, ist schon im nächsten Moment vergänglich. So beginnt das Hamsterrad.
Moderne Formen der Gier:
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Konsumgier: Besitz = Identität
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Informationsgier: FOMO, News-Junkies
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Beziehungsgier: Suche nach „der einen Person“
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Spiritualitätsgier: „Ich will endlich erwachen“
Je mehr du suchst, desto mehr bestätigt sich das Gefühl: Etwas fehlt.
Aber es fehlte nie etwas. Nur Gier behauptet das. Zumindest gilt das für die allermeisten Menschen in westlichen Regionen, die selbst nie wirklichen Hunger und Not erfahren haben.
Und hier ist die Gier auch zu unterscheiden. Handlungen, die das nackte Überleben sichern, kann man nicht als Gier klassifizieren.
Gier ist ein zutiefst menschlicher Antrieb. Sie entspringt dem Wunsch nach Mehr: mehr Geld, mehr Status, mehr Macht, mehr Genuss. Das klingt harmlos, wird aber zum Problem, weil Gier strukturell unstillbar ist — sobald ein Ziel erreicht wird, wächst sofort ein neues.
Nimm etwa die Immobilienblase. Menschen, die schon ein Haus besitzen, wollen ein zweites als Wertanlage, dann ein drittes als Renditeobjekt. Der Markt wird leergekauft, Mieten steigen, Normalverdiener werden verdrängt. Es reicht vielen nicht, ihr Dach über dem Kopf zu sichern — sie wollen Kapital akkumulieren, egal, wer darunter leidet.
Oder die Finanzindustrie: Ein Manager, der zehn Millionen verdient, jagt nach zwanzig, dreißig oder noch mehr. Es gibt keinen natürlichen Endpunkt. Boni und Renditen werden wie Drogen, das Belohnungszentrum im Gehirn verlangt nach immer neuen Kicks. Dieses Prinzip ist weder auf Topmanager noch auf Großaktionäre beschränkt. Auch Kleinanleger stürzen sich in riskante Krypto-Abenteuer, weil sie vom großen Reichtum träumen — oft mit katastrophalem Ausgang.
Ein weiteres Beispiel liefert die Konsumgesellschaft insgesamt. Werbung schürt beständig das Gefühl, dass etwas fehlt: das neue Smartphone, der neue SUV, die noch bessere Urlaubsreise. Ein Gerät, das noch völlig funktioniert, wird ersetzt, nur weil das Nachfolgemodell ein Detail besser kann. Das erzeugt einen ständigen Hunger nach Verbesserung — eine Spirale ohne Ende.
Selbst in zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt sich Gier. Manche sammeln Liebespartner wie Trophäen, nie zufrieden mit einem Gegenüber. Dating-Plattformen verstärken diese Haltung, weil jederzeit noch „bessere“ Optionen verfügbar scheinen. Tiefe Bindung wird geopfert, weil der nächste Kick wichtiger erscheint.
Auch der Naturverbrauch folgt diesem Muster. Wälder werden abgeholzt, weil der kurzfristige Gewinn aus Palmöl, Rindfleisch oder Sojaexporten als wichtiger gilt als gesunde Ökosysteme. Fischbestände werden leergefischt, Meere mit Plastik geflutet — und selbst wenn Arten aussterben, geht die Ausbeutung weiter.
Gier ist deshalb so mächtig, weil sie eine existenzielle Angst bedient: nicht genug zu haben. Diese Angst wurzelt tief im menschlichen Überlebensinstinkt. In einer Welt, die immer unsicher war, machte es biologisch Sinn, Ressourcen zu horten. Doch was im Naturzustand vielleicht überlebensnotwendig war, wird in modernen Wohlstandsgesellschaften zur permanenten Gefahr: Gier schadet anderen, zerstört Gemeinschaften und letztlich auch den Gierigen selbst.
Fazit: Gier endet nicht von selbst. Sie muss bewusst begrenzt werden — durch Ethik, Gesetze oder persönliche Einsicht. Sonst frisst sie alle Ressourcen und Beziehungen auf, bis nichts mehr bleibt. Die Beispiele aus Alltag, Wirtschaft und Umwelt zeigen klar, dass Gier zwar ein menschliches Grundmuster ist, aber ein äußerst zerstörerisches, wenn man ihm freien Lauf lässt.
3. Hass (dosa): Der unsichtbare Krieg
Hass ist nicht immer laut. Er beginnt oft leise – als Ablehnung, Abwehr, Abgrenzung. Es reicht ein Satz wie: „So darf das nicht sein.“
Diese Ablehnung kann sich gegen Menschen richten – oder gegen Situationen, Gefühle, sogar gegen dich selbst. Hass will wegschieben. Was nicht ins Bild passt, wird bekämpft.
Doch Hass erzeugt Trennung. Er teilt die Welt in „ich“ und „die anderen“. Er will kontrollieren, indem er ausschließt.
Hass ist der Wunsch, dass die Welt anders sein soll als sie ist.
Aber die Welt hört nicht auf dich. Sie macht einfach weiter. Je mehr du dagegen kämpfst, desto mehr leidest du.
In der Praxis zeigt sich Hass selten in reiner, plötzlicher Gewalt. Meist beginnt er unscheinbar, aus alltäglicher Abneigung. Kränkung, Neid, Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust — all das kann zu einer Spirale eskalieren, die in offener Gewalt mündet. Menschen entwickeln Feindbilder, projizieren innere Unzufriedenheit nach außen und wollen das vermeintlich Bedrohliche zerstören.
Gerade in der modernen Welt tritt Hass auch als kollektives Phänomen auf. Im Internet verbreitet er sich in rasender Geschwindigkeit. Plattformen, die schnelle Reichweite und Belohnung für extreme Botschaften schaffen, wirken wie Brandbeschleuniger. Aus einzelnen feindseligen Kommentaren entsteht eine dichte Atmosphäre von Abwertung, die in realer Gewalt gegen Minderheiten, Andersdenkende oder politisch unliebsame Gruppen umschlagen kann. Und zwar völlig gleichgültig, welche politische Richtung.
Doch an diesem Punkt muss auch ein kritischer Blick erlaubt sein: Viele Regierungen versuchen, Hassrede juristisch zu unterbinden, und berufen sich dabei auf den Schutz der Demokratie. In Wirklichkeit wird dieser Vorwand nicht selten instrumentalisiert, um unliebsame Stimmen mundtot zu machen.
Hass lässt sich nicht verbieten. Es nützt auch nicht der erhobene Zeigefinger. Es lässt sich aber rational gut erklären, warum Hass eigentlich nur schädlich ist, und zwar für den Hasser als auch für den Gehassten. Wer hasst, bestraft sich selbst für das Verhalten anderer. Denn Hass hat auf Körper und Psyche signifikante Auswirkungen.
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Stressphysiologie
Hass aktiviert das sympathische Nervensystem („Fight-or-Flight-Modus“). Das führt zu dauerhaft erhöhtem Cortisolspiegel, erhöhter Herzfrequenz und Blutdruck. Studien zeigen, dass chronisch feindselige Einstellungen (z.B. andauernder Hass auf Gruppen oder Einzelpersonen) langfristig Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen können. Das Risiko für Bluthochdruck, Herzinfarkt und Schlaganfall steigt.
Quelle: Smith TW (1992). Hostility and health: current status of a psychosomatic hypothesis. Health Psychology 11(3), 139–150. -
Immunsystem
Dauerhafte feindselige Emotionen schwächen nachweislich die Immunabwehr. Chronischer Ärger, Wut oder Hass können zu einem Anstieg von Entzündungsmarkern wie Interleukin-6 oder C-reaktivem Protein führen, was wiederum mit erhöhter Infektanfälligkeit und chronischen Entzündungen korreliert.
Quelle: Marsland AL, et al. (2007). Hostility, Interleukin-6, and the risk of infection. Brain, Behavior, and Immunity, 21(3), 327–334. -
Psychische Gesundheit
Hass korreliert stark mit Angststörungen und Depressionen. Wer in einem Hassmilieu lebt oder selbst Hass pflegt, entwickelt häufiger Grübelzwänge, Schlafstörungen und ein insgesamt niedrigeres Wohlbefinden. Studien zu „ruminative hostility“ (wiederholendes gedankliches Durchkauen von Hass) belegen eindeutig, dass dies depressive Symptome verschärft.
Quelle: Nolen-Hoeksema S, et al. (2008). Ruminative coping and emotion regulation in depression. Handbook of Emotion Regulation, 135–158. -
Soziale Isolation
Menschen, die stark hasserfüllt sind, isolieren sich oft sozial. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen verarmen, weil niemand dauerhaft mit jemandem zusammen sein möchte, der ständig aggressiv ablehnt. Diese Isolation wirkt wie ein Verstärker: sie senkt die Empathiefähigkeit weiter und kann Hass noch radikaler werden lassen. -
Langfristige Gewaltneigung
Wissenschaftlich belegt ist auch, dass Hass nicht statisch bleibt. Er kann wachsen, sich verschärfen und irgendwann in gewalttätige Handlungen umschlagen. Psychologen nennen das „Affekt-Eskalation“: wiederholte Hassgedanken senken die Hemmschwelle, selbst Gewalt als legitim anzusehen.
Quelle: Staub E (1989). The roots of evil: The origins of genocide and other group violence. Cambridge University Press.
Hass ist nicht nur moralisch oder gesellschaftlich destruktiv, sondern auch für den Einzelnen physiologisch und psychisch eindeutig ungesund. Er vergiftet Körper, Geist und soziale Netze. Deshalb raten nicht nur Religionen, sondern auch empirische Wissenschaften dazu, Hass zu erkennen und konstruktiv zu transformieren. Nicht zu verbieten oder politisch zu verfolgen! (Hassrede ist die Rede, die der politische Gegner hasst). Damit verbunden ist Machtmißbrauch durch Einschränkung von Meinungsfreiheit, sofern nicht klar gegen Gesetze verstoßen wird (z. B. Volksverhetzung, Beleidigung, Üble Nachrede...).
Hass im Sinne der Kleshas ist nicht einfach „böse“, sondern eine fehlgeleitete Energie, die sich an Abgrenzung und Verteidigung klammert. Solange das Ich als bedroht erlebt wird, bleibt Dvesha aktiv. Erst die Einsicht in die wechselseitige Verbundenheit aller Wesen schwächt seine Macht.
Die offene Debatte, auch über verletzende oder provozierende Worte, gehört deshalb zur Heilung. Eine Gesellschaft, die Dialog zulässt, wirkt wie ein Ventil. Eine Gesellschaft, die alles Unangenehme verbietet, verkrustet — und trägt den Hass weiter, verborgen, aber unverändert giftig.
4. Verblendung (moha): Die Wurzel aller Täuschung
Verblendung ist das subtilste der drei Gifte. Sie ist nicht emotional aufgeladen wie Gier oder Hass. Sie ist träge, diffus – aber ebenso gefährlich.
Moha — im Sanskrit und Pali meist mit Verblendung, geistiger Verwirrung oder Unwissenheit übersetzt — ist in der buddhistischen Psychologie das grundlegendste Geistesgift. Es wird als die Wurzel angesehen, aus der alle anderen Kleshas hervorgehen. Moha bedeutet, dass wir die Wirklichkeit nicht erkennen, wie sie ist. Stattdessen projizieren wir Annahmen, Hoffnungen, Ängste und starre Konzepte auf die Welt.
Im Abhidhammattha Sangaha, einem zentralen Werk der Theravada-Psychologie, heißt es treffend:
„Moha ist das Nicht-Wissen des wahren Wesens der Dinge, die Blindheit gegenüber Ursache und Wirkung.“
(Bhikkhu Bodhi, A Comprehensive Manual of Abhidhamma, 1993, S. 81)
Diese Blindheit bezieht sich vor allem auf drei fundamentale Merkmale der Existenz:
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Vergänglichkeit (anicca)
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Leidhaftigkeit (dukkha)
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Nicht-Selbst (anatta)
Solange der Mensch diese Grundmerkmale nicht klar erkennt, bleibt er in Moha gefangen. Er glaubt an ein festes, unabhängiges Ich, an dauerhafte Sicherheiten, an die Verlässlichkeit äußerer Dinge. Aus dieser Illusion entstehen zwangsläufig Gier (Raga), um begehrte Objekte festzuhalten, sowie Hass (Dvesha), um Bedrohliches zu verdrängen.
Psychologische Grundlagen
Auch moderne Psychologie und Kognitionsforschung belegen, dass Menschen von Natur aus geneigt sind, die Welt zu vereinfachen. Daniel Kahneman spricht von einem „cognitive ease bias“ (Kahneman, Thinking, Fast and Slow, 2011, S. 59): Wir ziehen einfache Geschichten komplexen Zusammenhängen vor, selbst wenn diese Geschichten falsch sind. Das ist im Kern Moha — eine bequeme, aber trügerische Reduktion.
Neurobiologisch betrachtet arbeitet das Gehirn als Mustererkennungsmaschine. Es versucht permanent, Zusammenhänge zu deuten, auch wo gar keine sind (Pareidolie). Studien von Shermer (2011) zeigen, dass diese Tendenz zu illusory pattern perception im evolutionären Sinne sinnvoll war — Gefahren früh zu erkennen konnte das Überleben sichern. Doch heute führt sie in komplexen Gesellschaften schnell zu Verschwörungstheorien, Vorurteilen und ideologischer Verblendung.
„Humans are pattern-seeking primates. Sometimes we find patterns that aren’t there.“
(Shermer, The Believing Brain, 2011, S. 38)
Alltagsbeispiele für Moha
Ein typisches Beispiel ist die unkritische Anhaftung an Statussymbole. Häuser, Autos, soziale Titel vermitteln die Illusion von Sicherheit und Beständigkeit. Wenn eine Wirtschaftskrise diese Besitztümer zerstört, bricht das Weltbild zusammen. Die Menschen erleben ein Gefühl von Sinnlosigkeit oder sogar Panik — weil die Illusion von Stabilität zerbricht.
Ähnlich verhält es sich in Beziehungen. Viele projizieren auf ihren Partner ein Idealbild: der Retter, die perfekte Ergänzung, der ewige Verbündete. Enttäuschungen sind vorprogrammiert, denn Menschen ändern sich, ebenso ihre Bindungen und Lebensumstände. Moha verhindert diese Einsicht.
Auch ideologische Gruppen zeigen Moha in Reinform. Politische Parteien oder religiöse Bewegungen werden oft zu Ersatzidentitäten erhoben. Der Einzelne glaubt, in diesen Gruppenzugehörigkeiten unverrückbare Wahrheit gefunden zu haben. Ein klassisches Beispiel sind fundamentalistische Strömungen, die Gewalt legitimieren, weil sie ihre eigene Weltsicht als absolut betrachten.
Der Dalai Lama fasst das prägnant zusammen:
„Ignorance is the root of all evil. If you remove ignorance, there is no basis for hatred or attachment.“
(Beyond Religion, 2011, S. 28)
Filterblasen und digitale Verblendung
Ein modernes Phänomen ist die algorithmisch verstärkte Verblendung. Soziale Netzwerke liefern Inhalte, die unsere bestehenden Meinungen bestätigen. Wir bleiben in einer Filterblase. In einer Studie von Bakshy et al. (2015, Science) wurde gezeigt, dass Facebook-Nutzer zu 23% seltener Inhalte lesen, die ihren Überzeugungen widersprechen.
Das fördert eine verzerrte Weltsicht, die Moha verstärkt, weil sie Widerspruch systematisch ausblendet.
Das digitale Moha ist gefährlich, weil es gesellschaftliche Polarisierung anheizt. Gruppen spalten sich voneinander ab, gemeinsame Verständigung wird immer schwieriger. Aus diesem Nährboden entstehen Hass, Extremismus und Gewaltbereitschaft.
Moha als Grundbedingung aller Kleshas
Aus buddhistischer Sicht ist Moha wie ein trüber Schleier. Solange er nicht gelüftet wird, bleibt jede noch so gut gemeinte Praxis oberflächlich. Gier, Hass, Neid oder Stolz sind in gewisser Weise nur Folgefehler, die aus der Verblendung erwachsen. Wenn ich an einem stabilen Ich festhalte, fürchte ich seinen Verlust — das fördert Hass gegen Bedrohungen. Wenn ich dieses Ich aufwerte, strebe ich nach Lob und Besitz — das fördert Gier.
Deshalb gilt Moha als „Mutter aller Kleshas“. Der Buddha selbst formulierte im Anguttara Nikaya:
„Unwissenheit ist die Führerin, Geistestrübungen folgen ihr wie Rinder ihrem Hirten.“
(AN 10.61)
Wege zur Überwindung von Moha
Im Buddhismus wird als Gegenmittel prajña genannt — Weisheit oder unterscheidendes Erkennen. Diese Klarheit entsteht nicht durch bloße Information, sondern durch tiefes Erleben. Vipassana-Meditation etwa ermöglicht, die fließende Natur aller Erscheinungen direkt zu erfahren. Gedanken kommen und gehen, Gefühle entstehen und vergehen. Dabei zeigt sich, dass kein fester Kern existiert, der „Ich“ genannt werden kann.
Jon Kabat-Zinn, ein Pionier der Achtsamkeitsforschung, beschreibt diesen Prozess so:
„Mindfulness means seeing things as they are, not as you wish them to be.“
(Wherever You Go, There You Are, 1994, S. 45)
Moderne Neurowissenschaften bestätigen, dass Achtsamkeitstraining die Aktivität im präfrontalen Kortex stärkt, wodurch impulsives, illusionsgestütztes Handeln reduziert wird. Farb et al. (2007, Journal of Cognitive Neuroscience) konnten zeigen, dass Achtsamkeitstraining die Emotionsregulation verbessert und verzerrte Wahrnehmungsmuster abschwächt.
Neben Meditation spielt die Sangha eine tragende Rolle. Austausch in einer Übungsgruppe wirkt wie ein Spiegel. Andere Menschen können blinde Flecken aufzeigen, die wir allein kaum wahrnehmen. Das gemeinsame Reflektieren hilft, Moha zu entlarven.
Fazit: Moha verstehen, um frei zu werden
Moha ist das tiefste Hindernis auf dem spirituellen Weg, weil es alles andere speist. Ein Geist, der nicht klar sieht, ist Spielball seiner eigenen Projektionen. Gier, Hass, Neid und Stolz sind nur Symptome. Will man wirklich frei werden, muss man den Mut finden, die eigene Verblendung zu durchleuchten.
Das heißt nicht, sich für die Täuschungen zu verurteilen. Niemand kann vollständig ohne Irrtum leben. Aber durch kontinuierliche Übung — Achtsamkeit, Reflexion, Austausch — lässt sich der Nebel zumindest lichten. Aus dieser Klarheit heraus entsteht Mitgefühl. Denn wenn man erkennt, wie sehr man selbst unter Illusionen gelitten hat, versteht man auch die Verblendung anderer Menschen — und kann ihnen begegnen ohne Hass, sondern mit Verständnis.
In den Worten des Buddha:
„Es gibt kein größeres Dunkel als Unwissenheit,
und kein größeres Licht als Weisheit.“
(Dhammapada, Vers 243, sinngemäß)
Quellenempfehlung für weiterführende Studien
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Bhikkhu Bodhi (1993). A Comprehensive Manual of Abhidhamma.
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Daniel Kahneman (2011). Thinking, Fast and Slow.
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Michael Shermer (2011). The Believing Brain.
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Bakshy E, Messing S, Adamic LA (2015). Exposure to ideologically diverse news and opinion on Facebook. Science, 348(6239), 1130–1132.
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Farb N et al. (2007). Attending to the present: mindfulness meditation reveals distinct neural modes of self-reference. J Cogn Neurosci 19(4): 611–620.
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Jon Kabat-Zinn (1994). Wherever You Go, There You Are.
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Anguttara Nikaya, Dhammapada (Pali-Kanon)
Umgang mit den Kleshas
1. Buddha selbst – Der Ursprung der Klesha-Lehre
Im Yoga-Sutra von Patanjali (2.3) werden fünf Kleshas genannt:
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Avidyā – Unwissenheit (Grundursache)
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Asmitā – Ich-Verhaftung
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Rāga – Verlangen
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Dveṣa – Ablehnung
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Abhiniveśa – Todesfurcht / Überlebensdrang
Im frühen Buddhismus (Abhidhamma, Suttapitaka) sind die Kleshas nicht als Liste kodifiziert, sondern als Ablagerungen im Geist, die es durch Achtsamkeit und Einsicht zu durchdringen gilt. Buddha nennt sie wörtlich: „die Trübungen, durch die das klare Wasser des Geistes sich eintrübt.“
2. Zen-Buddhismus – Sawaki Kōdō und das direkte Durchbrechen
Sawaki Roshi äußert sich nicht systematisch über Kleshas, aber sein gesamtes Wirken ist ein Angriff auf die Ich-Verhaftung. Für ihn sind alle Kleshas Ausdruck eines „Sich-drehen-um-sich-selbst“.
Zitat:
„Zazen bedeutet, sich nicht mehr um sich selbst zu drehen. Das Ich, das etwas will oder nicht will, kommt zur Ruhe.“
– Kōdō Sawaki
Im Zen wird nicht analysiert oder psychologisiert – sondern durchtrennt. Kein Denken über Gier, Hass oder Verblendung – sondern Sitzen, still und wach, bis der Nebel sich lichtet.
3. Ramana Maharshi – Die Auflösung im reinen Selbst
Ramana lehrt, dass alle Kleshas ihre Wurzel im „Ich-Gedanken“ haben.
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Gier: entsteht aus dem Gefühl „dies ist nicht mein Selbst – ich muss es besitzen“
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Hass: entsteht aus „dies ist gegen mich – ich muss es loswerden“
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Verblendung: ist das Nicht-Fragen nach dem Ursprung des „Ich“
Sein einziger Rat: „Frage: Wer bin ich?“ – Die Selbstfrage verbrennt die Kleshas im Licht des reinen Gewahrseins.
4. Eckhart Tolle – Das Schmerzkörper-Modell
Tolle identifiziert die Kleshas als Ausdruck des Schmerzkörpers – einem energetischen Feld aus altem emotionalen Leid.
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Gier = Suche nach Kompensation
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Hass = Abwehr und Identität durch Feindbild
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Verblendung = Identifikation mit Gedanken
Tolle empfiehlt reines Beobachten ohne Reaktion. Dadurch verliert der Schmerzkörper seine Energie – analog zur Achtsamkeit im Satipatthana-Sutta.
5. Krishnamurti – Radikale Freiheit vom Psychologischen Ich
Krishnamurti lehnt Begriffe wie „Kleshas“ als Teil eines psychologischen Konditionierungssystems ab, benennt aber deren Wirkung klar:
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Das Denken in Mustern (Vergnügen, Schmerz, Angst) erzeugt ständig Projektion und Wiederholung.
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Kleshas sind Symptome eines Bewusstseins, das sich selbst nicht erkennt.
Sein Mittel: Wahrnehmung ohne Zentrum, also Sehen ohne Ich. In dieser Beobachtung zerfallen die Kleshas wie Rauch im Wind.
6. Christentum – Die sieben Todsünden als westliche Klesha-Version
In der christlichen Mystik erscheinen ähnliche geistige Trübungen:
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Avaritia (Habgier), Ira (Zorn), Superbia (Stolz) – Spiegel von Rāga, Dveṣa, Asmitā
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Wüstenväter wie Evagrius Ponticus beschreiben sie als „Dämonen“, die den Geist heimsuchen.
Therapeutisch dagegen: Demut, Stille, Kontemplation, Fasten, Gebet. Ziel ist nicht nur Verzicht, sondern Läuterung des Herzens (katharsis).
7. Advaita Vedanta – Maya als kollektive Verblendung
Shankara spricht nicht von „Kleshas“, aber seine Metaphysik beschreibt Verblendung als Maya – die Kraft, die das Eine als Vielheit erscheinen lässt.
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Rāga = Anhaftung an Formen
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Dveṣa = Ablehnung des Unangenehmen
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Moha = Ignoranz der Einheit
Erkenntnis des Selbst (Atman = Brahman) durchbricht diese Illusion. Es gibt keine Heilung der Kleshas – nur deren Auflösung in der Wahrheit.
8. Theravāda – Bhikkhu Analayo und Satipatthāna
Der moderne Theravāda-Mönch Analayo interpretiert die Kleshas als „defilements“ (nīvaraṇa) und setzt auf systematische Achtsamkeit:
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Gier: wird durch Betrachtung von Unbeständigkeit untergraben
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Hass: durch Metta-Meditation aufgelöst
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Verblendung: durch klare Unterscheidung von Körper, Gefühl, Geist
Zitat:
„Achtsamkeit ist kein passives Beobachten – sondern ein Aufwachen aus der Trance der Reaktivität.“
9. Psychotherapie – Moderne Schattenarbeit als Klesha-Praxis
C. G. Jung sprach vom „Schatten“, der verdrängte Impulse enthält – meist das, was wir an uns nicht sehen wollen. Kleshas entsprechen oft diesen verdrängten Anteilen.
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Gier → kompensierte Leere
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Hass → abgelehnte Angst
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Verblendung → falsches Selbstbild
Moderne Methoden wie Focusing, IFS oder Gestalttherapie nutzen Innenschau, um die Kleshas nicht zu unterdrücken, sondern zu integrieren.
10. Thich Nhat Hanh – Umarmung der Kleshas mit Achtsamkeit
Der vietnamesische Zenmeister schlägt einen sanfteren Ton an:
„Gier, Hass und Unwissenheit sind wie kleine Kinder – sie brauchen unser liebevolles Gewahrsein.“
Statt Verdrängung oder Kampf: Umarmung mit Mitgefühl.
Sein Werkzeug: Achtsamkeit in jeder Handlung, jeder Emotion. Gehmeditation, Atemübung, achtsames Sprechen.
Die Kleshas sind keine exotische Idee aus Indien. Jede tiefgreifende Weisheitslehre der Menschheit hat sie erkannt – nur unter anderem Namen. Der Weg zur Befreiung führt bei allen über dasselbe Nadelöhr:
Erkenne, was dich blind macht. Bleibe stehen. Sieh hin. Und geh hindurch.
6. Neurowissenschaftlich betrachtet
Studien aus der Neurowissenschaft zeigen: Unsere Entscheidungen entstehen oft bevor wir bewusst denken.
Die Kleshas sind in gewisser Weise vorbewusste Tendenzen.
Sie sind wie neuronale Kurzschlüsse – schnell, effizient, aber blind.
Achtsamkeit verändert die Gehirnstruktur. In der Meditationsforschung zeigt sich, dass regelmäßige Praxis:
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die Amygdala schrumpfen lässt
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die Verbindung zum präfrontalen Kortex stärkt
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emotionale Reaktionen verzögert
Das heißt: Wir gewinnen Zeit zwischen Reiz und Reaktion. Und genau da entsteht Freiheit.
Dr. Ulrich Ott, Meditationsforscher an der Universität Gießen, beschreibt Meditation als eine Form von systematischem mentalem Training. Dieses Training verändert nachweislich die Struktur und Funktion des Gehirns. In seinen Studien und Publikationen – etwa in „Neurowissenschaftliche Forschung zur Achtsamkeitsmeditation“ – fasst er zusammen:
„Meditation ist mentales Training – und wie jedes Training verändert sie das Gehirn.“
— Ulrich Ott, 2013, in: Neurowissenschaftliche Forschung zur Achtsamkeitsmeditation
Was sich im Gehirn verändert:
Laut Ott (in Anlehnung an zahlreiche Studien) führt regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu messbaren neuroplastischen Veränderungen. Dazu zählen:
Vergrößerung des Hippocampus
– zuständig für Lernen, Gedächtnis und emotionale Integration
Verdickung des präfrontalen Kortex
– verantwortlich für Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit und Handlungskompetenz
Verringerung der Amygdala-Aktivität
– Reduktion von Angst, Stressreaktionen und emotionaler Reaktivität
Stärkere neuronale Konnektivität
– zwischen Arealen für Aufmerksamkeitssteuerung, Körperwahrnehmung und emotionaler Selbstregulation
Zitatquellen & Literaturhinweise
„Meditation kann die Dicke der Großhirnrinde in Bereichen erhöhen, die mit Aufmerksamkeit, Sinneswahrnehmung und interozeptivem Bewusstsein zu tun haben.“
— Ulrich Ott, Meditation für Skeptiker, O.W. Barth Verlag, 2010
„Veränderungen in der Struktur grauer Substanz konnten insbesondere im Hippocampus, in der Insula und im Temporallappen festgestellt werden.“
— Ulrich Ott, zit. nach Studien von Lazar et al. (2005, 2011)
„Mit zunehmender Praxis verändert sich nicht nur das emotionale Reaktionsmuster, sondern auch die Hirnstruktur selbst.“
— Ott, 2013, Fachaufsatz zur Meditationsforschung
Trait-Veränderung statt Moment-Effekt:
Ott unterscheidet zwischen kurzfristigen State-Effekten (z. B. Ruhe nach einer Sitzung) und langfristigen Trait-Effekten. Letztere sind dauerhafte Veränderungen im Gehirn, die sich über Monate oder Jahre hinweg aufbauen. Meditation formt also nicht nur den Moment – sie verändert den Menschen, der diesen Moment erlebt.
7. Spirituell betrachtet: Der Weg durch die Kleshas hindurch
Buddha sagte nicht: „Bekämpfe die Gier.“
Er sagte: „Erkenne sie.“
Nicht die Unterdrückung, sondern die klare Schau ist der Weg.
Wenn du Gier spürst – schau hin.
Wenn du Hass spürst – bleib da.
Wenn du Verblendung bemerkst – freue dich. Denn du hast sie gesehen.
Spirituelle Praxis besteht darin, diese inneren Kräfte nicht mehr als „ich“ zu leben.
Sie sind da – aber sie sind nicht du.
Der Moment, in dem du eine Reaktion erkennst, ohne ihr zu folgen, ist ein Moment von Erwachen.
8. Praxis: Wie arbeite ich mit den Kleshas konkret?
Es braucht keine komplizierte Technik.
Nur den Mut zur Ehrlichkeit.
Beispielübung 1: Achtsames Erkennen
Setze dich still hin.
Wenn ein Gedanke kommt – frage dich:
– Ist das Gier?
– Ist das Hass?
– Ist das Verblendung?
Beispielübung 2: Körperwahrnehmung
Wo spürst du die Gier? Im Bauch?
Wo den Hass? In den Schultern?
Wie fühlt sich Verblendung an? Leer, dumpf, schlaff?
Beispielübung 3: Innerer Spiegel
Notiere dir jeden Abend:
– Drei Momente, in denen du etwas wolltest
– Drei Momente, in denen du etwas abgelehnt hast
– Drei Dinge, die du übersehen hast
Nicht zur Selbstkritik – sondern zur Klarheit.
9. Warum das wichtig ist – auch jenseits des Zen Praxis
Die Kleshas wirken überall: in Beziehungen, Politik, Medien, Konsum.
Die gesamte Werbewelt lebt von Gier.
Politik von Hass.
Und die Masse folgt – geblendet.
Erwachen heißt: Sich nicht mehr benutzen lassen.
Nicht von außen. Und auch nicht von innen.
10. Fazit: Der stille Ausstieg aus dem Leidensspiel
Wenn du weißt, dass du gierig bist – hast du schon begonnen, frei zu sein.
Wenn du siehst, dass du hasst – beginnt Verstehen.
Wenn du erkennst, dass du verblendet bist – entsteht Licht.
Die Kleshas sind nicht Feinde.
Sie sind Lehrer.
Sie zeigen, wo du dich verlierst –
damit du dich erinnern kannst.