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Sentei-Zen
Kapitel 3
Die Skandhas entschlüsselt.

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Zwiebel

Die Zwiebel symbolisiert die Klesha-Schichten von grob (körperlich) bis subtil (geistig).

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Kapitel 3: Die Skandhas entschlüsselt
 

Einführung: Was bleibt übrig, wenn das Ich zerlegt wird?
 

In Kapitel 1 "Was ist das Leiden" und Kapitel 2 "Das Ich als Illusion" liefern den Schlüssel menschlichen Leides und zeigt auf die Ursache eines verzerrten Selbstbilds. In den nächsten drei Kapiteln schauen wir unter die Motorhaube unseres Ich-Automaten. Wie macht es das Ego, nicht enttarnt zu werden? Welche Endlosschleifen erwecken den Eindruck einer realen Wahrnehmung? Welche Mechanismen führen dazu, dass wir und ohne Unterlass im Hamsterrad bewegen, ohne einen Schritt vorwärts zu kommen? 

 

Wenn wir beginnen, uns selbst zu betrachten, stoßen wir schnell auf eine merkwürdige Tatsache: Da ist ein Erleben — aber da ist kein fester „Jemand“, der dieses Erleben steuert.
 

Der Buddha hat diese Einsicht radikal formuliert. Er sagte:

"Was ihr als Ich betrachtet, ist in Wahrheit nur ein Zusammenspiel von fünf Gruppen."
 

Diese fünf Gruppen nennt man die Skandhas. Das Wort kommt aus dem Altindischen und bedeutet wörtlich: „Haufen“, „Ansammlungen“ oder „Bündel“.
 

Sie sind wie fünf Module einer Maschine. Jeder für sich funktioniert, aber erst im Zusammenspiel erzeugen sie das, was wir als unser „Selbst“ erleben.

Je tiefer wir diese Dynamik verstehen, desto mehr löst sich die Illusion des Ichs auf. Was bleibt, ist ein freieres, klareres Dasein.
 

Die fünf Skandhas im Überblick
 

Die Skandhas lauten:

  1. Form (Rupa)

  2. Empfindung (Vedana)

  3. Wahrnehmung (Samjna)

  4. Gestaltungen, Gedanken, Willensimpulse (Sankhara)

  5. Bewusstsein (Vijnana)

Jeder dieser Begriffe beschreibt einen zentralen Aspekt unseres Erlebens. Schauen wir sie uns im Detail an.
 

KI Zen


 

1. Form (Rupa) – Der Körper als Grundlage
 

Hier geht es ganz konkret um den physischen Teil unseres Daseins:

  • unseren Körper

  • die Sinnesorgane

  • die materielle Umwelt


Ohne einen Körper gäbe es kein Erleben. Die Sinnesorgane liefern ständig Daten: Licht trifft auf die Netzhaut, Schallwellen erreichen das Trommelfell, Moleküle stimulieren Geruchsrezeptoren.
 

Diese Signale sind noch keine Erfahrungen. Sie sind bloße Rohdaten. Doch sie bilden das Rohmaterial, das die anderen Skandhas weiterverarbeiten.

Bereits hier zeigt sich, dass wir nicht „Herr im eigenen Haus“ sind. Wir kontrollieren nicht, was wir sehen, hören oder riechen. Es geschieht.

 

Unsere Alltagserfahrung sagt:

  • Der Tisch ist fest.

  • Der Stein ist hart.

  • Mein Körper ist solide.

Aber die Physik zeigt etwas völlig anderes:

Materie besteht aus Atomen. Diese Atome bestehen fast vollständig aus leerem Raum.

Ein einfaches Wasserstoffatom etwa besteht aus:

  • einem winzigen Proton (der Kern)

  • einem Elektron, das in enormer Entfernung um diesen Kern kreist

Wenn man den Atomkern auf die Größe eines Reiskorns vergrößern würde, befände sich das Elektron etwa 100 Meter entfernt. Dazwischen: Nichts. Reiner leerer Raum.
 

Über 99,9999999999 Prozent eines Atoms bestehen aus leerem Raum.

Die „Härte“ von Materie entsteht lediglich durch elektromagnetische Abstoßungskräfte, die verhindern, dass sich Elektronenhüllen durchdringen. In Wahrheit „berühren“ wir nichts.

Die Atome unserer Finger stoßen die Atome des Tisches ab — doch nichts kommt je in direkten Kontakt. Die Stabilität, die wir erleben, ist also eine massive Täuschung unserer Sinnesorgane. Stell dir einen Ventilator mit drei Flügeln vor. Solange er sich nicht dreht, siehst du, dass er aus drei Flügeln besteht. Fangen diese aber zu rotieren an, erscheinen sie wie eine Scheibe. Unser Versand ist zu langsam, um die Täuschung zu durchschauen. Ähnlich funktioniert Kino, wo auch nur Bild an Bild gereiht wird, nur eben so schnell, dass vor unserem Auge eine fließende Bewegung entsteht. 

 

In der Realität ist es genau umgekehrt. Wir sehen eine Entität und glauben, sie ist fest und unbeweglich, dabei ist sie stets im Fluss. Jedes Objekt, das vor unserem Auge erscheint, befindet sich im Fluss und folgt dabei dem generalisierten Prozess des Entstehens, des Bestehens und des Vergehens.
 

Unsere Sinne: primitive Datenkompression
 

Warum nehmen wir dann Materie als „fest“ wahr?

Unsere Sinnesorgane sind evolutionär optimiert, um schnelle, grobe Information für das Überleben zu liefern:

  • Sehen: Nur ein schmaler Ausschnitt des elektromagnetischen Spektrums (ca. 380–750 nm).

  • Hören: Nur begrenzte Frequenzen (ca. 20–20.000 Hz).

  • Tasten: Nur makroskopische Oberflächenstrukturen, keine atomaren Details.


Unsere Sinne „glätten“ die unvorstellbar komplexen Schwingungen der Teilchen und Felder. Sie liefern vereinfachte, stabile Objekte:

  • „Da ist ein Baum.“

  • „Hier ist ein Stein.“

  • „Dort läuft ein Tier.“


In Wahrheit tanzen unter dieser scheinbaren Stabilität Milliarden von subatomaren Teilchen in ständiger Bewegung, Energieaustausch und Quantenfluktuation.
 

Der Verstand setzt noch eins drauf: Er schafft aus diesen groben Sinnesdaten eine stabile Welt mit festen Objekten und kausalen Zusammenhängen.
 

Tiere: andere Sinne, andere Welt
 

Dass unsere Wahrnehmung eine Filterblase ist, wird besonders deutlich, wenn wir die Sinne anderer Lebewesen betrachten:

  • Fledermäuse sehen ihre Umwelt per Ultraschall-Echo. Für sie besteht die Welt aus akustischen Raumbildern.

  • Bienen sehen ultraviolettes Licht — ihnen offenbaren sich Muster auf Blüten, die wir niemals sehen.

  • Schlangen sehen Infrarot-Wärmestrahlung — für sie „glühen“ warme Körper.

  • Haie besitzen elektrische Sinnesorgane und spüren bioelektrische Felder von Beutetieren.

  • Hunde riechen Millionen Male besser als wir. Ein Hund „sieht“ mit der Nase einen olfaktorischen Film.
     

Jede Spezies konstruiert ihre eigene Welt aus den verfügbaren Sinnesdaten.

Die Welt „an sich“ — das, was Kant die Noumenon nannte — bleibt für alle Wesen verborgen.
 

Was wir für „die reale Welt“ halten, ist nur unsere menschliche Filterversion davon.
 

Buddha und die moderne Physik treffen sich

 

Genau hier trifft Buddhas Lehre auf die moderne Naturwissenschaft:

  • Rupa ist keine feste Substanz, sondern ein dynamisches Prozessgeschehen.

  • Materie existiert nur als Wechselspiel von Energie, Information und Feldern.

  • Die feste Welt ist eine Konstruktion des Wahrnehmungssystems, nicht eine objektive Realität.
     

Buddha lehrte: Form ist leer; Leere ist Form.

Heute würden wir sagen:

  • Form = scheinbare Stabilität emergent aus leerem Raum.

  • Leere = kein Nichts, sondern das formende Potential aller Erscheinungen.
     

Der Trugschluss des Alltagsbewusstseins
 

Unser Fehler liegt nicht in der Wahrnehmung selbst — die Sinne tun nur, wozu sie geschaffen wurden.
 

Der Fehler liegt in der Identifikation:

  • „Da ist ein fester Körper — also bin ich dieser Körper.“

  • „Da ist eine feste Welt — also ist dies die einzige Realität.“
     

Doch je tiefer wir blicken, desto deutlicher wird:

  • Da ist kein festes „Ding“.

  • Da ist nur Bewegung.

  • Da ist keine Substanz, nur Prozesse.
     

Der erste Skandha Rupa — bereits hier beginnt die Auflösung des Ichs.


Im nächsten Skandha, der Empfindung (Vedana), beginnt die nächste Illusion: unsere automatische Bewertung von angenehm, unangenehm oder neutral. Hier entsteht das eigentliche Leid — und damit der Schlüssel zur Befreiung.
 

Hinneigung
Ablehnung

2. Empfindung (Vedana) – Angenehm, unangenehm, neutral
 

Der zweite Skandha verarbeitet die Rohdaten und bewertet sie in Sekundenbruchteilen. Jede Wahrnehmung löst sofort eine Grundreaktion aus:

  • Angenehm: Wir wollen mehr davon.

  • Unangenehm: Wir wollen es vermeiden.

  • Neutral: Wir registrieren es kaum.
     

Diese Bewertung geschieht automatisch, ohne bewusste Entscheidung. Sie ist tief biologisch und existiert sogar bei einfachsten Lebewesen.

Hier entstehen bereits erste Keime von Anhaftung und Ablehnung — den zentralen Ursachen des Leidens, wie Buddha später lehrt.

Auch diese Unterscheidung dient in erster Linie dem menschlichen Überleben. Nehmen wir zum Beispiel einen Erdapfel (Kartoffel) und einer Pferdeapfel (Kacke). Sie bestehe beide zu über 99,99 % aus Nichts. Untersucht man die übrigen Moleküle, wird man feststellen, dass sich die Konsistenz unterscheidet, die biologische Zusammensetzung ist aber sehr ähnlich. 

Trotzdem lieben wir Pommes und hassen gleichzeitig Pferdeäpfel-Kompott. Warum? Weil in Pferdekot Krankheitserreger viel häufiger vorkommen als in Kartoffeln. Der Mechanismus "UI" und "Pfui" schützt uns vor Krankheiten und anderen Unannehmlichkeiten. 

Vedana aus Sicht der Neurowissenschaft – Das Belohnungssystem hinter der Empfindung

Der zweite Skandha Vedana beschreibt etwas extrem Fundamentales:
Jede Wahrnehmung wird automatisch eingestuft in:

  • angenehm (Annäherung)

  • unangenehm (Vermeidung)

  • neutral (kein Handlungsimpuls)

Buddha beschrieb das vor 2500 Jahren — die moderne Neurowissenschaft bestätigt heute seine Beobachtungen auf biologischer Ebene.

Im Kern steckt dahinter unser Belohnungssystem.

Wie funktioniert das Belohnungssystem?

Unser Gehirn verarbeitet ununterbrochen Sinnesreize und bewertet sie hinsichtlich ihres Überlebensnutzens.
Die zentrale Steuerungseinheit dafür ist das sogenannte mesolimbische Dopaminsystem.

Die wichtigsten beteiligten Hirnareale sind:

  • Ventral tegmentales Areal (VTA): Startpunkt der Dopaminausschüttung

  • Nucleus accumbens: Bewertungszentrum für Belohnung

  • Amygdala: emotionale Bewertung (insbesondere Angst, Gefahr)

  • Präfrontaler Cortex: kognitive Bewertung, langfristige Planung

  • Hypothalamus: Steuerung vegetativer Funktionen (Hunger, Durst, Sexualtrieb)

Was passiert neurologisch bei Vedana?

  1. Sinnesreiz trifft ein. Ein visueller, auditiver, taktiler oder innerer Reiz gelangt ins Gehirn.

  2. Schnelle Bewertung durch die Amygdala. Die Amygdala entscheidet blitzschnell: Gefahr oder Sicherheit?

  3. Droht Gefahr, wird Stress ausgelöst (Fight or Flight). Bei Sicherheit wird das Belohnungssystem aktiviert.

  4. Aktivierung des Belohnungssystems. Wird der Reiz als „angenehm“ eingestuft, schüttet das VTA Dopamin aus.

  5. Dopamin verstärkt das Gefühl: "Das will ich mehr haben." Es motiviert uns zum Handeln (Nahrung suchen, Partner finden, Ressourcen sichern).

  6. Verarbeitung durch den präfrontalen Cortex. Hier findet eine bewusste. Neutralität entsteht durch schwache oder widersprüchliche Signale Reize, die weder Gefahr noch Lust auslösen, werden als neutral registriert. Das Gehirn spart hier Energie, weil keine unmittelbare Handlung nötig ist.

Evolutionäre Bedeutung

Das Belohnungssystem ist ein evolutionär extrem alter Mechanismus:

  • Lust bedeutet: nützlich fürs Überleben.

  • Unlust bedeutet: gefährlich oder schädlich.

  • Neutral bedeutet: irrelevant.

Ein Tier ohne diese Mechanismen würde entweder verhungern oder leicht Beute werden.

Selbst Einzeller zeigen primitive Ansätze von Vedana:

  • Annäherung an Nahrung

  • Wegschwimmen vor Giftstoffen

Buddhas Beschreibung von Vedana als „Grundreaktion des Erlebens“ beschreibt also exakt diese biologische Logik.

Moderne Beispiele

  • Nahrung: Süßes aktiviert direkt das Belohnungssystem (Dopamin, Endorphine, Insulin).

  • Soziale Anerkennung: Likes auf Social Media setzen Dopamin frei — ein moderner Verstärker von Vedana.

  • Sexuelle Reize: ebenfalls massive Dopaminfreisetzung.

  • Gefahrensituationen: aktivieren Amygdala und Hypothalamus → Cortisol, Adrenalin, Herzrasen.

Hier zeigt sich: unser „Wollen“ ist stark von diesen uralten biologischen Mechanismen geprägt — oft stärker, als wir glauben.

Der Zusammenhang mit Leiden

Und hier trifft Buddha erneut ins Schwarze:

  • Anhaftung (Tanha) entsteht, wenn angenehme Vedana zu Gier wird.

  • Ablehnung (Dosa) entsteht, wenn unangenehme Vedana zu Wut oder Angst wird.

  • Unwissenheit (Avijja) hält den Kreislauf am Laufen, weil wir glauben, dieser Reaktion ausgeliefert zu sein.

Das Belohnungssystem macht die Welt automatisch zur Bühne von Haben-Wollen und Vermeiden-Wollen.


Buddhas Weg bestand darin, diesen Automatismus bewusst zu durchschauen und dadurch Freiheit zu gewinnen.

Fazit: Vedana ist kein „Fehler“

Vedana ist keine Fehlfunktion, sondern ein biologisch notwendiger Bewertungsmechanismus.


Doch wenn wir diesen Mechanismus unbewusst laufen lassen, entsteht Leiden.

Der Buddha sagt:


Wer die Entstehung von Vedana erkennt, kann aufhören, darauf reflexhaft zu reagieren.

Genau hier beginnt die Praxis des Zen — die radikale Unterbrechung dieser automatischen Reiz-Reaktions-Schleifen.
 

Erkennen

3. Wahrnehmung (Samjna) – Erkennen und Benennen


Erst jetzt beginnt unser Geist, die Reize zu interpretieren:

  • Aus Licht und Farben wird: „Das ist ein Apfel.“

  • Aus Schall wird: „Da ruft jemand meinen Namen.“

  • Aus Druck auf der Haut wird: „Es regnet.“
     

Wahrnehmung bedeutet, Sinneseindrücke zu identifizieren, zu benennen und einzuordnen. Wir vergleichen ständig mit gespeicherten Mustern:

  • Erinnerungen

  • Konditionierungen

  • kulturelle Prägungen
     

Deshalb erkennt ein Eskimo 20 verschiedene Schneesorten — und ein Wüstenbewohner sieht einfach nur „Schnee“.

Samjna zeigt, wie sehr unsere Realität durch Lernen und Kultur geformt ist. Vieles, was wir für objektiv halten, ist eigentlich Interpretation.

Wie Samjna im Kind entsteht: die Geburt der Welt

Schauen wir uns die Entwicklung bei einem Kind an. Hier wird sehr gut sichtbar, wie Samjna arbeitet:

1. Früheste Wahrnehmung:


Ein Neugeborenes sieht zunächst nur Licht, Schatten, diffuse Formen. Kein Objekt, kein Name, keine Trennung zwischen „ich“ und „Welt“.

2. Erste Wiedererkennung:


Schon nach wenigen Wochen beginnt das Baby, Gesichter zu unterscheiden. Hier setzt das erste Mustererkennen ein.

3. Begriffsbildung:


Nach und nach entstehen stabile Kategorien:

  • „Das da ist immer wieder Mama.“

  • „Das da ist immer wieder Flasche.“

4. Sprache als Katalysator:


Sobald das Kind beginnt, Worte zu lernen, verstärkt sich die Begriffsbildung explosionsartig:

  • „Hund“: ein Laut wird zur Schublade, in die alle bellenden Vierbeiner einsortiert werden.

  • „Stuhl“: das Kind versteht, dass sehr unterschiedliche Objekte unter einen Begriff fallen können.

Mit jedem neuen Wort differenziert sich die Welt weiter aus.

5. Symbolisches Denken:


Ab ca. dem 2. Lebensjahr entsteht die Fähigkeit, auch über Dinge zu sprechen, die nicht anwesend sind.
Das ist der Beginn von Abstraktion — und der

Beginn der inneren Welt.

Die kulturelle Programmierung von Samjna

Die Begriffe, die wir lernen, sind nicht naturgegeben. Sie sind Produkte der jeweiligen Kultur:

  • Eskimos unterscheiden Dutzende Arten von Schnee.

  • Wüstenvölker haben vielfältige Begriffe für Sand.

  • In Japan gibt es Begriffe für feine soziale Nuancen, die in europäischen Sprachen fehlen.

  • Europäische Sprachen differenzieren Zeit sehr stark (Vergangenheit, Zukunft), während indigene Sprachen der Amis wenig trennen zwischen Jetzt und Später.

Unsere gesamte Wirklichkeitskonstruktion ist also eine kulturelle Einfärbung der Rohdaten.

Wir sehen nicht, was ist. Wir sehen, was unsere Sprache erlaubt zu unterscheiden.

Genau hier liegt die Gefahr:
Was wir benennen, erscheint uns als „wirklich“ und „objektiv“.
Doch es ist nur eine von vielen möglichen Kartographien der Wirklichkeit.

Die historische Entwicklung der Begriffsbildung

  • Mythische Kulturen:
    In frühen Stammesgesellschaften wurde die Welt primär in Lebewesen, Geister, Ahnen und Naturkräfte eingeteilt.
    Objektive, naturwissenschaftliche Begriffe existierten kaum.

  • Theistische Kulturen:
    Mit der Entstehung organisierter Religionen wurden moralische und metaphysische Kategorien dominierend:
    Sünde, Schuld, Tugend, Erlösung.

  • Rational-wissenschaftliche Kulturen:
    Seit der Aufklärung entstand eine hypertrophe Begriffsbildung:
    Natur wird in Moleküle, Atome, Quanten unterteilt; das Soziale in Schichten, Klassen, Diagnosen.

Der Begriff wurde zum absoluten Maßstab der Realität.

Warum Samjna die Ich-Illusion stabilisiert

Unsere gesamte Identität hängt an Samjna:

  • Ich heiße Andreas.

  • Ich bin Vater.

  • Ich bin spiritueller Sucher.

  • Ich habe Probleme.

Doch all das sind nur Namen für vorübergehende Phänomene.
Die Begriffe erzeugen scheinbare Stabilität, wo nur ständiger Wandel ist.

Deshalb sagt Buddha:

"Wo Benennung ist, da ist auch Leiden. Wo Namen enden, da endet das Leiden."

Fazit: Samjna als nützliches Werkzeug — und gefährliche Falle

  • Ohne Samjna gäbe es kein Denken, kein Sprechen, keine Zivilisation.

  • Doch im Übermaß führt es zur Erstarrung in Konzepten und Identifikationen.

  • Wer Samjna durchschaut, beginnt zu sehen, statt nur zu benennen.

Der Zen-Weg beginnt genau hier:

  • Im Loslassen der Begriffe.

  • Im Durchschauen der Worte.

  • Im Zurückkehren zum rohen Erleben.

 
Hinter Samjna beginnt der nächste Skandha: Sankhara, die inneren Gestaltungen — die Filme, die unser Geist aus den Begriffen spinnt und mit denen er unser Ich weiter stabilisiert.
 

​4. Gestaltungen, Gedanken, Willensimpulse (Sankhara) – Das innere Kino
 

Hier wird es richtig spannend. Sankhara umfasst:

  • Gedanken

  • Bewertungen

  • Absichten

  • Entscheidungen

  • Erinnerungen

  • Wünsche

  • Ängste

Hier entstehen die Geschichten, die unser Ich täglich schreibt:
„Ich bin so und so. Ich sollte das tun. Ich habe Angst davor.“

Doch Buddha sagt: Auch diese inneren Konstruktionen sind bedingt, flüchtig, leer.

Neurobiologisch betrachtet entstehen diese Prozesse aus neuronalen Mustern, Hormonen, Vorerfahrungen und sozialen Normen.

Wir glauben, wir denken „frei“. In Wahrheit ist vieles ein Produkt vorheriger Prägungen. Sankhara zeigt, wie unser inneres Erleben ständig alte Filme abspult — ohne dass ein „Autor“ im Hintergrund existiert.

Konstruktivismus

Buddha nennt sie Sankhara — die „Formationen“.
Der Psychologe Paul Watzlawick spricht von Wirklichkeitskonstruktionen (Watzlawick, 1976).
Beide meinen im Kern dasselbe:


Wir erschaffen uns eine Welt, die wir dann für real halten.

Unsere Gedanken sind nicht bloß Worte im Kopf. Sie sind ganze Erzählungen:

  • „Ich bin jemand, der…“

  • „Die Welt ist so und so…“

  • „Menschen sind gefährlich…“

  • „Nur wenn ich Erfolg habe, bin ich wertvoll.“

Watzlawick beschreibt diesen Mechanismus in seinem Buch "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?" sehr treffend:

"Wir konstruieren unsere Wirklichkeit durch unsere Kommunikation, unsere Sprache, unsere inneren Deutungsmuster."
(Watzlawick, P. (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Watzlawick, Piper Verlag)

 

Unsere Wahrnehmung wird durch diese Überzeugungen gefiltert.
Was ich glaube, steuert, was ich wahrnehme.
Was ich wahrnehme, bestätigt meinen Glauben.
Der Kreis schließt sich.

Das Beispiel mit dem Ertrinkenden

Watzlawick illustriert dies mit einem berühmten Beispiel:

Ein Mann springt in einen Fluss und rettet einen Ertrinkenden.

  • Die erste Beobachtergruppe urteilt:
    „Wie selbstlos! Dieser Mann riskiert sein Leben, um einen Fremden zu retten."

  • Die zweite Gruppe urteilt:
    „Wie verantwortungslos! Er bringt sich unnötig in Gefahr.“

  • Die dritte Gruppe urteilt:
    „Wie egozentrisch! Er wollte nur als Held dastehen.“

Die gleiche objektive Handlung — drei völlig verschiedene Deutungen.
Die Beobachter sehen nicht die „Wirklichkeit“, sondern ihre Sankhara, ihre mentalen Konstruktionen.

Watzlawick sagt dazu:

"Was wir wahrnehmen, wird durch das, was wir erwarten, geformt. Und was wir erwarten, wird wiederum von dem geformt, was wir glauben."
(Watzlawick, 1976, S. 65)

Buddha wiederum geht noch radikaler:

  • Selbst der Gedanke „Ich habe diese Interpretation“ ist nur eine weitere geistige Formation.

  • Selbst unser Ich-Erleben ist Produkt von Sankhara.

Moderne Ergänzungen aus der Psychologie

Die kognitive Psychologie bestätigt diesen Befund:

  • Kognitive Verzerrungen (Tversky & Kahneman, 1974): Menschen neigen dazu, Informationen so zu interpretieren, dass sie bestehende Überzeugungen bestätigen (confirmation bias).

  • Selbstkonsistenztheorie (Festinger, 1957): Menschen vermeiden kognitive Dissonanz, indem sie widersprüchliche Informationen umdeuten oder ignorieren.

  • Soziale Konstruktion von Wirklichkeit (Berger & Luckmann, 1966): Wirklichkeit entsteht durch soziale Interaktion und sprachliche Aushandlungsprozesse.

​​

Diese modernen Theorien sind letztlich westliche Varianten dessen, was Buddha unter Sankhara verstand.

Einst war ich mit meiner Frau in München in Kino. Ich wollte mit dem Zug fahren, weil es in München erfahrungsgemäß keine Parkplätze gibt. Meine Frau, von Geburt an Optimist, wollte das Auto nehmen und war überzeugt, dass wir einen Parkplatz finden. Ich beugte mich, nur um mal wieder Recht zu behalten. Fuhr dreimal im Kreis um das Kino und fuhr meine Frau an, es wäre ja wohl auch diesmal besser gewesen, auf mich zu hören. 

Meine Frau schüttelte verwundert den Kopf, denn ich bin an drei freien Parkplätzen vorbeigefahren. Ich wollte das erst nicht glauben, überzeugte mich aber selbst, dass mein Bewusstsein offensichtlich die Realität ausgeblendet hat, nur um mein Weltbild, an das mein Ego rigeros festhält, aufrecht zu erhalten. 

Anders herum: Als ich mich dafür erstmal im Leben interessierte, einen Wohnwagen zu kaufen, merkte ich erst, wieviele Wohnwagen rumfahren. Ich dachte zuerst, ich wäre einem Hype aufgesessen und alle wollten plötzlich einen Wohnwagen haben. Tatsächlich habe ich zuvor die Wohnwägen einfach nur ausgeblendet, weil sie mich nicht interessiert haben. 

 

Spiegel

5. Bewusstsein (Vijnana) – Das Beobachten selbst​

 

Der fünfte Skandha ist das Bewusstsein: das schlichte Gewahrsein dessen, was gerade geschieht.​ Da ist Sehen. Da ist Hören. Da ist Denken. Da ist Empfinden. Bewusstsein nimmt wahr, ohne selbst Inhalte zu erzeugen. Es ist wie ein Spiegel, der das Bild nicht beeinflusst.​ Doch selbst dieses Bewusstsein entsteht nicht unabhängig. Es ist abhängig von den Sinnesorganen, den Inhalten der anderen Skandhas und der Aufmerksamkeit.​

 

Wenn wir bewusstlos sind (z. B. in tiefer Narkose), existiert auch kein Erleben. Das Bewusstsein ist daher kein „Sein an sich“, sondern ein dynamischer Prozess.​

 

Das harte Problem des Bewusstseins​

 

Die moderne Wissenschaft spricht hier vom „harten Problem des Bewusstseins“

(David Chalmers, 1995): Wie entsteht subjektives Erleben aus materiellen Prozessen?​Neuronen feuern. Neurotransmitter werden ausgeschüttet. Synapsen verstärken oder hemmen Signale. Doch warum fühlt sich das nach „Erleben“ an?​ Dieses Rätsel ist bis heute ungelöst. Die Wissenschaft kann Bewusstsein bislang nur beschreiben, nicht erklären. Quelle: Chalmers, D. (1995). Facing Up to the Problem of Consciousness. Journal of Consciousness Studies, 2(3), 200-219.​

 

Die aktuellen Erklärungsversuche​

 

1. Materialistische Theorien (Neurobiologie)​

 

Hier gilt: Bewusstsein ist eine Funktion des Gehirns.​Prominente Vertreter: Francis Crick, Christof Koch.Bewusstsein entsteht aus neuronalen Netzwerken, chemischen Prozessen und elektrischer Aktivität.​Problem:Diese Theorien können neuronale Korrelate des Bewusstseins messen (NCC), aber nicht erklären, warum subjektives Erleben existiert. Quelle: Crick, F. (1994). The Astonishing Hypothesis. Scribner.​

 

2. Informationstheoretische Modelle​

 

Hier gilt:​ Bewusstsein entsteht aus integrierter Information. Wichtigster Vertreter: Giulio Tononi mit seiner Integrated Information Theory (IIT). Das Maß der Integration (Phi) soll bestimmen, wie viel Bewusstsein ein System besitzt.​ Problem: Die Theorie ist mathematisch sauber, aber praktisch schwer überprüfbar. Sie sagt auch nicht, warum Information Erleben erzeugt. Quelle: Tononi, G. (2008). Consciousness as Integrated Information. Biological Bulletin, 215(3), 216-242.​

 

3. Panpsychismus​

 

Hier gilt:Bewusstsein ist eine fundamentale Eigenschaft der Materie selbst.​ Vertreter: Galen Strawson, Philip Goff. Jede Form von Materie enthält einen winzigen Anteil an Bewusstseinsqualität.​ Problem: Der Ansatz verschiebt das Problem nur — er löst es nicht. Quelle: Strawson, G. (2006). Realistic Monism: Why Physicalism Entails Panpsychism. Journal of Consciousness Studies, 13(10-11), 3-31.​

 

4. Neuro-Phänomenologische Ansätze​

 

Hier kommt man Buddha sehr nahe: Bewusstsein ist nicht Ding, sondern Prozess. Vertreter: Francisco Varela, Evan Thompson. Bewusstsein entsteht aus dem Zusammenspiel von Wahrnehmung, Körper, Aufmerksamkeit, Bewegung, Interaktion. Es gibt kein Bewusstsein ohne Kontext.​ Quelle:Varela, F., Thompson, E., & Rosch, E. (1991). The Embodied Mind. MIT Press.Thompson, E. (2014). ​​

Maschine

Die fünf Skandhas kann man sich auch wie Bauteile eines Motors vorstellen. Keines dieser Bauteile ist der Motor, aber in seinem Zusammenwirken mit anderen Bauteilen entsteht Antrieb. Die Abläufe, die dabei entstehen (Kobenhub, Kurbelwellenantrieb, Stromerzeugung, Kühlwasserkreislauf...) entsprechen den Gliedern abhängiges entstehen im nächsten Kapitel 4 und das Benzin liefern die Kleshas aus Kapitel 5. 

Das Zusammenspiel: Die Illusion eines stabilen Ichs​

 

Die fünf Skandhas wirken wie Zahnräder:​

Form liefert Sinnesmaterial.

Empfindung bewertet.

Wahrnehmung interpretiert.

 

Sankhara erzeugt Geschichten und Absichten.Bewusstsein beobachtet den ganzen Vorgang.​ Diese fünf Prozesse erzeugen millisekündlich das Gefühl: „Ich erlebe gerade etwas.“Doch dieses Ich ist flüchtig. Es entsteht neu in jeder Millisekunde. Es gibt keinen stabilen Kern, der alles zusammenhält.

 

​Ein modernes Bild:  Das Betriebssystem „Ich“​

 

Man kann sich das Ganze auch wie ein Smartphone vorstellen:​

Die Hardware = Form (Rupa)Die Sensoren (Kamera, Mikrofon, etc.) liefern Daten = Form

Das Bewertungssystem: Ist der Akku warm? Ist die App wichtig? = Empfindung (Vedana)

Die Bilderkennung und Spracherkennung = Wahrnehmung (Samjna)Die Apps und Prozesse, die daraus Handlungen ableiten = SankharaDer Bildschirm, auf dem alles erscheint = Bewusstsein (Vijnana)​Doch wo ist das „Ich des Smartphones“?

 

Es gibt kein solches. So ähnlich funktioniert auch unser Erleben.​ Der große Irrtum: „Ich bin meine Gedanken“​. Die meisten Menschen setzen ihr Ich mit ihren Gedanken gleich:„Ich denke, also bin ich.“ (Descartes). „Ich fühle mich so, also ist es wahr.“„Ich erinnere mich, also bin ich dieser Jemand.“ Doch der Buddha zeigt: Gedanken sind nur ein Skandha unter fünf. Und sie entstehen nicht aus sich selbst heraus. ​Wie die Wellen auf dem Meer entstehen Gedanken aus Ursachen. Der Ozean selbst (das reine Bewusstsein) bleibt unberührt.​

 

Dies ist oft die erste Erfahrung, die Schüler der Meditation machen. Sie sollen stell sitzen und ihre Atemzüge zählen, doch ständig schießt irgendein Gedanke in den Kopf und lenkt vom Zählwerk ab. Kaum hat man sich versehen, schon hat man sich verzählt und man muss von vorne beginnen. Wie lästige Mücken schleichen sich immer wieder Gedanken in die Praxis und der Übende mag verzeifeln: Ich kann das nicht! Ich bin nicht für die Meditation geeignet!

 

Dabei ist genau das die Übung.​ Praktische Relevanz für die Praxis​Wer die Skandhas versteht, bekommt einen entscheidenden Schlüssel zur inneren Freiheit: Schmerzen werden spürbar, aber sind nicht mehr „mein Schmerz“. Angst taucht auf, aber ist nur ein vorübergehender Zustand. Gedanken erscheinen, aber müssen nicht geglaubt werden.Die Identifikation mit dem Erleben löst sich.Was bleibt, ist reines Gewahrsein: wach, offen, still.​

 

NLP, Psychologie, Neurowissenschaft – Parallelen​

 

Viele moderne Methoden bestätigen Buddhas Einsichten:​NLP (Neurolinguistisches Programmieren) zeigt, wie stark Wahrnehmung (Samjna) durch Sprache und Suggestion geprägt ist.Kognitive Verhaltenstherapie arbeitet mit Sankhara, indem sie Gedankenmuster bewusst verändert.Neurowissenschaften zeigen, dass Entscheidungen oft unbewusst fallen (vgl. Libet-Experiment).

 

Traumatherapie arbeitet mit Vedana, um automatische Angstreaktionen zu transformieren.​Alle diese Methoden arbeiten letztlich an den Skandhas — oft ohne den Begriff zu kennen.​Die Skandhas sind kein Modell, sie sind die Realität​Der Buddha betonte:Er lehrt nicht Philosophie, sondern beschreibt, was ist.Die Skandhas sind nicht bloß ein Konzept, sondern eine exakte Beschreibung, wie Erleben entsteht. Wer sie erkennt, sieht direkt:​Da ist nur Bewegung.Da ist kein Ding.Da ist keine Substanz.​Und genau hierin liegt die Befreiung.Schlusswort:In den nächsten Kapiteln werden wir noch genauer betrachten, wie diese Einsichten praktisch genutzt werden können. 

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