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Kapitel 3



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Die ersten Lichtstrahlen tasteten sich durch die dünnen Wolkenschichten über der polnisch-ukrainischen Grenze. Mario saß am Rand des Waldstücks und überprüfte ein letztes Mal seine Ausrüstung. Keine Uniform mehr, kein Rangabzeichen, nur noch dunkle Zivilkleidung, ein kleiner Rucksack, eine geladene Pistole. Die Flucht hatte begonnen.


Sie hatten ihn gewarnt. Schon vor Wochen. Die Befehle der letzten Offensiven waren eindeutig gewesen: "Reinigungseinsätze". Keine Kampfhandlungen mehr, sondern Exekutionen. Er hatte es zunächst verdrängt. Befehle befolgt, sich angepasst, wie immer. Doch mit jedem Tag nagte der Zweifel. Und dann kam der Befehl, der alles veränderte.


Ein ganzes Dorf. Frauen, Kinder, Alte. Der Kommandeur nannte es einen „Vorbeugungsschlag“. Mario konnte es nicht mehr verteidigen. Er konnte nicht mehr töten für eine Wahrheit, die keine mehr war.


Er war Major der Bundeswehr gewesen. Technisch gesehen galt er noch immer als Offizier. Doch seit zwei Tagen war er offiziell fahnenflüchtig. Deserteur. Landesverräter.


Sein Vater hatte ihn gewarnt, vor Jahren schon. Immer wieder dieselben Sätze:

*"Wer den Krieg verstehen will, muss lernen, seine eigene Rolle zu sehen. Keine Seite ist sauber."*


Damals hatte Mario ihn verachtet für diese Haltung. Jetzt verstand er.


Ein Rascheln riss ihn aus den Gedanken. Zwei Grenzposten auf Patrouille. Er drückte sich in die Senke, hielt den Atem an. Einer der Soldaten blieb kurz stehen, sah sich um. Sekunden dehnten sich. Dann entfernten sie sich langsam. Mario wartete noch zwei Minuten, dann kroch er weiter.


Sein Ziel war klar: Antaiji.


Er wusste, dass der Name für die meisten nur ein ferner, vergessener Ort in Japan war. Für ihn aber war es Zuflucht. Sein Vater hatte ihm einst von diesem Ort erzählt. Ein abgelegenes Zen-Kloster. Keine Technologie, keine Kameras, kein System. Nur Stille. Und die wenigen, die dorthin fanden.


In seiner Brusttasche trug er den kleinen USB-Stick, der alles noch gefährlicher machte. Die Daten, die seine Frau ihm kurz vor ihrer eigenen Flucht zugespielt hatte. Dokumente über die geheimen Verschiebungen von CBDC-Konten, Beweise über politische Säuberungen, verschwundene Aktivisten. Dinge, die niemand veröffentlichen durfte.


Seine Frau Sara war bereits auf dem Weg. Mit Glück würde sie es schaffen. Doch ihre Kinder waren in den Lagern. Er wusste nicht, ob er sie je wiedersehen würde.


Der Kontakt zu seinem Vater war nur über eine einzige, verschlüsselte Funkfrequenz möglich gewesen. Wenige Sätze, abgehackt, voller Störgeräusche:


*"Mario. Komm nach Antaiji. Nur dort bist du sicher."*


Und dann die Koordinaten.


Die Strecke war gefährlich. Noch war er in Europa, doch bald musste er sich auf einem Frachtschiff verstecken, als blinder Passagier über Russland und China, bis nach Osaka. Von dort weiter ins Hinterland.


Er war vorbereitet. In seinem Rucksack: falsche Papiere, ein Wechselpass, Yen-Bargeld, Krypto-Codes, ein kleiner Funkempfänger, Medikamente. Alles mit Hilfe eines alten Freundes seines Vaters organisiert. Theo.


Theo war Bulgare. Früher Geheimdienst, jetzt eine Art freier Agent. Einer, der wusste, wie Systeme funktionierten — und wie man sie austrickste.


Ein weiterer Marsch begann. Mario schulterte den Rucksack, prüfte den Kompass, dann verschwand er wieder in den endlosen Wäldern.


Er wusste: Wer einmal diesen Weg eingeschlagen hatte, konnte nicht mehr zurück.


*Antaiji oder Tod. Dazwischen gab es nichts mehr.*


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