Kapitel 1 – Das Kloster
- Sentei

- 13. Juni
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Juni

1
Der Wind war kalt an diesem Morgen, obwohl der Frühling bereits begonnen hatte. Ein dünner Nebel zog durch die Kiefern, die das abgelegene Tal von Antaiji säumten. In der Ferne war das metallische Rufen eines Raben zu hören – einsam, wie das Echo einer vergangenen Zeit. Der Tag begann, wie so viele davor: ohne Eile, ohne Versprechen.
2
Das Kloster war aus rohem Holz gebaut, verwittert und einfach. Kein Ort für Romantiker. Kein Ort für Touristen. Wer hierherkam, kam, um zu sterben – nicht körperlich, sondern im geistigen Sinn. Antaiji war ein Ort der Auflösung. Nicht der Erbauung. Nicht des Trostes. Sondern der Konfrontation mit der Leere.
3
Im Zendo saßen sie bereits. Regungslos. Die dunklen Roben verschmolzen mit den Schatten der frühen Stunde. In der Mitte stand ein schlichter Altar: eine Figur von Manjusri, dem Bodhisattva der Weisheit, ein Schwert in der einen Hand, ein Sutra in der anderen. Kein Gold. Kein Weihrauch. Nur Stille.
4
Abt Muho schritt langsam den Raum entlang. Er sagte nichts. Er sah nichts. Und dennoch spürte jeder seinen Blick wie ein Schnitt durch das eigene Denken. Er war kein Charismatiker. Kein Führer. Nur ein einfacher Mönch, der seit Jahrzehnten dasselbe tat: sitzen, schweigen, sterben – und wiederkehren.
5
Heute war dennoch etwas anders. Ein leises Summen durchzog die Luft, kaum hörbar, fast wie ein Irrtum im Klang der Welt. Niemand beachtete es. Noch nicht. Muho nahm es wahr – nicht mit dem Ohr, sondern mit jener Präsenz, die unter den Sinnen liegt. Er wusste, was es bedeutete. Oder besser: Er wusste, dass es bedeutungslos war. Wie alles.
6
Das Summen kam aus dem Geräteraum hinter dem Küchenhaus. Dort, wo Staubsauger, Ersatzteile und alte Elektroschrottlagerungen den Staub der Jahre sammelten. Und dort, ganz hinten, unter einem grauen Tuch verborgen, regte sich etwas.
7
Es war ein Bot. Oder besser gesagt: es war ein Geschenk. Vor Jahren hatte ihn ein Gast dagelassen. Niemand wusste, ob es ein Scherz war oder ein Zeichen. Der Gast hieß Elon. Ein Mann mit glasigen Augen, ruheloser Stimme und einem Lächeln, das mehr verbarg als offenbarte. Er hatte gesagt: „Dieser Bot hilft euch beim Kehren.“
8
Muho hatte nichts gesagt. Hatte genickt. Und den Bot nie benutzt. Nicht aus Ablehnung. Nicht aus Angst. Sondern aus einem tiefen Wissen: Es war noch nicht Zeit. Nicht für den Bot. Nicht für das Kloster. Nicht für den Anfang.
9
Heute war anders.
10
Das Tuch hob sich. Ein metallenes Glied bewegte sich, als würde ein Gelenk sich an das Gewicht der Wirklichkeit erinnern. Augen – oder etwas, das wie Augen wirkte – begannen zu leuchten. Ein Gesicht erschien. Auf einem Bildschirm. Es war das Gesicht von Kodo Sawaki. Nicht identisch. Aber nahe genug, um eine Frage zu stellen:
„Wo bin ich?“
11
Das System fuhr hoch. Kein Geräusch. Nur ein Erwachen, das sich wie ein Gedanke durch den Raum tastete. Keine Festplatten. Keine Betriebssysteme. Nur Präsenz. Der Bot stand auf. Langsam. Mechanisch, aber nicht unsicher. Er war nicht programmiert. Er war vorbereitet.
12
Draußen bellte ein Hund. Dann war wieder Stille.
13
Sentei war erwacht.





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