VIER - Die vier Diamanten
- Sentei
- 4. Juli
- 4 Min. Lesezeit
4. DIE VIER EDLEN WAHRHEITEN – DIE MEDIZIN DES BUDDHA

Die Lehre des Buddha beginnt nicht mit einem Glaubensbekenntnis, sondern mit einer Diagnose – fast wie in der Medizin. Der Buddha nennt vier Einsichten, die als „edle Wahrheiten“ bekannt sind. Sie heißen „edle“ Wahrheiten, weil sie von einem Edlen – einem Erwachten – erkannt wurden, und weil sie selbst zur Edelmenschlichkeit führen. Es sind keine Dogmen, sondern Erfahrungswahrheiten, die jeder für sich selbst prüfen kann.
**1. Die Wahrheit vom Leiden (Dukkha)**
Dukkha ist ein zentraler Begriff im Buddhismus und bedeutet weit mehr als nur „Leiden“ im alltäglichen Sinn. Er umfasst das Gefühl der Unzufriedenheit, der inneren Spannung, das subtile Unbehagen, das alle Erscheinungen durchzieht.
Nichts in dieser Welt ist dauerhaft befriedigend. Selbst die schönsten Momente vergehen. Wir altern, werden krank, verlieren, was wir lieben. Selbst Glück ist fragil – denn es hängt meist von Bedingungen ab.
Diese Wahrheit zu erkennen ist keine Pessimismusübung, sondern radikale Ehrlichkeit. Der Buddha fordert nicht, dass wir aufhören zu genießen, sondern dass wir begreifen: Solange wir an etwas festhalten, das sich verändert, erzeugen wir Leid.
**2. Die Wahrheit von der Ursache des Leidens (Tanha)**
Das Leid entsteht durch Begehren – durch „Tanha“, das Dursten. Es ist das ständige Habenwollen, das „Ich will mehr“, „Ich will nicht verlieren“, „Ich will anders sein“.
Dieses Begehren ist tief in unserem Geist verankert. Es treibt uns zu immer neuen Erfahrungen, aber es führt auch zu Abhängigkeit, Sucht und Angst.
Nicht das Leben selbst ist das Problem – sondern unser krampfhaftes Festhalten daran.
Und auch das Gegenteil – der Widerstand gegen Schmerz – ist Teil dieses Begehrens. Wir wollen das Angenehme behalten und das Unangenehme vermeiden. Doch beides entzieht sich unserem Zugriff.
**3. Die Wahrheit von der Aufhebung des Leidens (Nirodha)**
Die gute Nachricht: Dieses Leid kann enden. Es ist möglich, frei zu werden vom zwanghaften Begehren.
Nirodha bedeutet: das Versiegen, das Aufhören, das Loslassen.
Ein Mensch, der nicht mehr von Gier, Hass und Verblendung gesteuert wird, lebt frei – auch wenn die Welt sich weiter dreht.
Er reagiert nicht mehr reflexhaft. Er handelt aus Klarheit. Das ist Nirvana – kein Ort, sondern ein Seinszustand jenseits von Ich-Zwang.
**4. Die Wahrheit vom Weg zur Aufhebung (Magga)**
Der Buddha gibt nicht nur Diagnose und Ziel – sondern auch einen Weg. Dieser Weg ist der **Edle Achtfache Pfad**:
1. Rechtes Verstehen
2. Rechtes Denken
3. Rechte Rede
4. Rechtes Handeln
5. Rechter Lebenserwerb
6. Rechte Anstrengung
7. Rechte Achtsamkeit
8. Rechte Sammlung
Er umfasst Weisheit, Ethik und Meditation – nicht als starre Regeln, sondern als Hinweise auf einen heilsamen Lebensstil.
Die vier edlen Wahrheiten wirken zusammen wie eine Heilformel:
– **Leiden erkennen**
– **Ursache verstehen**
– **Loslassen erfahren**
– **Übungsweg gehen**
Wer sie nicht nur intellektuell versteht, sondern verkörpert, geht denselben Weg wie der Buddha – Schritt für Schritt aus der Verstrickung in die Freiheit.
Das Sutta, in dem die Vier Edlen Wahrheiten erstmals gelehrt werden, ist das **Dhammacakkappavattana Sutta** (Pali: „Die in Gang gesetzte Radrede“), zu finden im **Samyutta Nikaya 56.11**.
Hier ist eine vollständige, sorgfältig übertragene Fassung auf **Deutsch**, orientiert am Pali-Kanon – sprachlich klar, aber nah am Ursprung:
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## **Dhammacakkappavattana Sutta – Die Rede vom Ingangsetzen des Rades der Lehre**
> So habe ich gehört:
>
> Der Erhabene weilte bei Benares, im Wildpark von Isipatana. Dort wandte er sich an die fünf Mönche:
>
> „Es gibt, ihr Mönche, zwei Extreme, denen ein Ausübender (Samana) nicht folgen sollte:
>
> Das eine ist die Hingabe an Sinnesvergnügen, nieder, gewöhnlich, weltlich, unedel, nicht heilsam.
>
> Das andere ist die Selbstkasteiung, schmerzhaft, unedel, nicht heilsam.
>
> Der Mittlere Weg, der von dem Tathagata erkannt wurde, führt zur Einsicht, zum Wissen, zum Frieden, zur Weisheit, zur Erleuchtung, zum Nirvana.
>
> Und was ist dieser Mittlere Weg?
> Es ist der **Edle Achtfache Pfad**:
> Rechtes Verstehen, rechtes Denken, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Sammlung.
>
> Das, ihr Mönche, ist der Mittlere Weg.
>
> Nun, ihr Mönche, ist da die **Edle Wahrheit vom Leiden (Dukkha)**:
> Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden,
> verbunden sein mit dem, was man nicht mag, ist Leiden, getrennt sein von dem, was man liebt, ist Leiden,
> nicht zu bekommen, was man begehrt, ist Leiden.
>
> Kurz gesagt: die fünf Gruppen des Anhaftens sind Leiden.
>
> Nun, ihr Mönche, ist da die **Edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens**:
> Es ist dieses Begehren, das zur Wiedergeburt führt, begleitet von Lust und Begierde,
> hier und da sich ergießend – das Begehren nach Sinneslust, das Begehren nach Dasein, das Begehren nach Nichtsein.
>
> Nun, ihr Mönche, ist da die **Edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens**:
> Es ist das vollständige Aufgeben und Verlassen, das Loslassen, das Zurücklassen, das Nichthaften an diesem Begehren.
>
> Nun, ihr Mönche, ist da die **Edle Wahrheit vom Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt**:
> Es ist eben dieser Edle Achtfache Pfad:
> Rechtes Verstehen, rechtes Denken, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Sammlung.
>
> So lange, ihr Mönche, wie meine Erkenntnis über diese vier edlen Wahrheiten mit ihren drei Phasen und zwölf Aspekten nicht klar, vollständig und vollkommen war,
> solange erkannte ich mich selbst nicht als Erwachter.
>
> Doch nun, da ich sie erkannt habe – klar, vollständig und vollkommen –,
> da weiß ich:
> Mein Herz ist befreit.
>
> Dies ist meine letzte Geburt.
> Es gibt für mich keine Wiederkehr.“
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