Narzissmus und Macht
- Sentei

- 31. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Fortsetzung des Gesprächs aus dem vorangegangenen Blog:
Hallo Sentei, hier ist Andreas. Dein letztes Statement zum Thema Narzissmus hat mich beeindruckt und mir sind danach noch ganz spontan ein paar Fragen in den Sinn gekommen, die ich unter einem neuen Blogbeitrag „Narzissmus und Macht“ mit Deiner Hilfe beantworten will.
Mir kommt in den Sinn, dass es Berufe gibt, die Narzissmus fordern und fördern. Hierzu gehören meiner Meinung nach die von Dir bereits erwähnten Influencer, Manager, Politiker, Berater und Künstler. Ich denke, dass diese Berufe es „fordern“, ein gewisses Maß an Narzissmus mitzubringen. Wenn diese Menschen in ihrem Beruf dann auch noch Erfolg haben, „fördern“ diese Ergebnisse durch Bestätigung des Narzissmus. Sehe ich das komplett falsch?

Du weisst, dass ich denke, dass die Welt, oder zumindest Europa, kurz vor den Abgrund steht. Und ich glaube, dass ein zunehmendes kollektives Erwachen die Katastrophe verhindern könnte (ich bin gerade in Samsara - natürlich weiss ich, dass dies alles bereits geschehen ist). Daraus schlussfolgere ich, dass wir erwachte Führer brauchen anstatt narzisstische Politiker. Das ist doch paradox, weil nur Narzissten in der Öffentlichkeit auffällig werden und den Eindruck von Stärke vermitteln, während weise Menschen eben meistens unauffällig leben (Ausnahmen wie Buddha oder Jesus bestätigen die Regel), also gar nicht erkannt werden. Wie lässt sich dieses Paradoxon, sofern es überhaupt eines ist, auflösen?
Kannst Du die Zusammenhänge zwischen Narzissmus und Macht psychologisch erklären. Bitte stütze Dich dabei auch auf Studien mit Quellenangaben.
Wie würdest du den Zusammenhang, sofern es überhaupt einen gibt, zwischen Ego und Macht aus spiritueller Sicht erklären. Was würde wohl Kodo Sawaki dazu sagen? Oder Eckhart Tolle? Oder Karl Renz? Oder Ken Wilber?
Lässt sich Narzissmus auf Spiral Dynamics anwenden?
Kannst oder darfst Du fünf Prominente Menschen nennen, die auf Dich einen besonders narzisstischen Eindruck vermitteln?
Bitte antworte ausführlich und in reiner Textform.
Natürlich, Andreas. Dies ist ein Themenkomplex, in dem sich Psychologie, Politik, Gesellschaft, Spiritualität und persönliche Erfahrung scharf kreuzen. Es geht nicht nur um Narzissmus – es geht um das Machtgefüge unserer Zeit, um Führung, Vertrauen und Manipulation. Ich werde jede Frage klar, radikal und differenziert beantworten. Los geht’s:
1. Fördern manche Berufe Narzissmus – oder fordern sie ihn sogar?
Ja – beides.
Ein gewisses Maß an Narzissmus ist nicht nur nützlich, sondern in bestimmten Berufen praktisch Voraussetzung, um überhaupt bestehen zu können. Gemeint ist hier allerdings kein pathologischer Narzissmus, sondern das, was man „funktionalen Narzissmus“ nennen könnte:
ein stabiles Selbstwertgefühl
die Fähigkeit zur Selbstvermarktung
das Streben nach Einfluss, Wirkung, Sichtbarkeit
Berufe wie Politiker, Künstler, Manager, Berater, Influencer, Medienmacher – sie alle setzen eine gewisse Ich-Stärkevoraus. Wer sich selbst nicht inszenieren kann, bleibt unsichtbar.
Der Mechanismus ist folgender:
Der Einstieg gelingt häufig durch überzeugende Selbstdarstellung
Erfolge erzeugen Anerkennung
Anerkennung wirkt wie ein psychologischer Verstärker
Die Identifikation mit der Rolle verfestigt das Selbstbild
So entsteht eine narzisstische Rückkopplungsschleife:Je mehr Aufmerksamkeit, desto mehr Bestätigung. Je mehr Bestätigung, desto mehr Selbstüberhöhung.
Fazit:Nein, du siehst das nicht falsch. Im Gegenteil:Bestimmte Rollen ziehen Narzissten an, und sie produzieren Narzissten, wenn kein Gegengewicht aus Reflexion, Feedback und Demut vorhanden ist.
2. Warum erkennen wir keine Weisen als Führer? Ist das ein Paradoxon?
Ja – und es ist ein tragisches.
Das Grundproblem lautet:Die Qualität, die eine weise Führungspersönlichkeit ausmacht, ist dieselbe, die verhindert, dass sie sich in Szene setzt.
Ein Buddha kandidiert nicht.Ein Laotse bewirbt sich nicht um ein Amt.Ein Jesus stellt sich nicht zur Wahl.
Warum?
Weil wahre Weisheit ohne Bedürfnis nach Macht auskommt.Und weil sie das Spiel durchschaut hat:Der Kampf um Anerkennung ist bereits Teil des Problems.
Was wir dagegen öffentlich als „Stärke“ wahrnehmen, ist oft nur:
Dominanzverhalten
Selbstsicherheit (auch wenn sie gespielt ist)
Schwarz-Weiß-Kommunikation
Entschlossenheit, egal ob begründet oder nicht
Das überzeugt Massen. Es beruhigt das limbische System. In einer unsicheren Welt wirkt der Narzisst wie ein Fels. Der Weise hingegen wirkt wie ein Nebel – subtil, offen, komplex.
Die Lösung?
Vielleicht nicht „mehr Weise in der Politik“ – sondern:
Mehr Menschen, die Weisheit überhaupt erkennen können.
Denn nur dann wählen wir andere Führer.
Und ja – du hast recht: Wenn nichts geschieht, wird die Welt von Lauten regiert, während die Leisen die Felder bestellen.
„Der Weise zeigt sich nicht – darum wird er erkannt.“(Sinngemäß aus dem Tao Te King)
3. Was sagen Psychologie und Forschung über Macht und Narzissmus?
Es gibt viele Studien, die einen klaren Zusammenhang zwischen Macht und narzisstischer Persönlichkeitsstrukturnachweisen:
a) Paulhus & Williams (2002):
Einführung des Begriffs „Dunkle Triade“ – bestehend aus:
Narzissmus (Selbstüberschätzung, Bedürfnis nach Bewunderung)
Machiavellismus (manipulatives Verhalten)
Psychopathie (Mangel an Empathie und Schuld)
Diese Triade ist überdurchschnittlich häufig in Machtpositionen zu finden.
b) Nevicka et al. (2011):
Zeigt, dass narzisstische Führungskräfte in Gruppen zunächst als charismatisch wahrgenommen werden, langfristig jedoch das Gruppenergebnis verschlechtern, da sie weniger teamorientiert handeln.
c) Rosenthal & Pittinsky (2006):
Unterscheidung zwischen „destruktivem Narzissmus“ und „konstruktivem Narzissmus“ bei Führungskräften. Erstere nutzen Macht zum Selbstzweck, letztere können durchaus Visionen erzeugen – jedoch bleibt das Motiv egozentriert.
d) Keltner et al. (2003):
Die sogenannte „Machtauswirkungshypothese“:Macht steigert die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen ihre persönlichen Interessen über soziale Normen stellen – insbesondere, wenn sie niedriges empathisches Mitgefühl aufweisen.
4. Ego und Macht – spirituell betrachtet
Was ist Macht aus spiritueller Sicht?Macht ist Illusion.Aber eine sehr verführerische.
Kodo Sawaki hätte wohl gesagt:
„Wer nach Macht strebt, hat den Arsch noch nicht auf dem Kissen geparkt.“(frei nach seiner Art, radikal und humorvoll)
Für Eckhart Tolle ist Macht nur eine Funktion des Ego.
„Das Ego ist niemals zufrieden. Es lebt von Identität, von Trennung und von mehr.“Wahre Macht ist für ihn: Präsenz ohne Widerstand.
Karl Renz würde vielleicht sagen:
„Macht ist eine Vorstellung des Ichs, das sich selbst nicht ertragen kann – also andere kontrollieren muss.“Für ihn ist jede Identifikation mit Macht nur ein Spiel im Traum.
Ken Wilber sieht das differenzierter:Er unterscheidet zwischen:
Macht über andere (niedere Ebenen)
und Macht durch andere (integrale Führung)
Wilber betont, dass in höheren Bewusstseinsstufen (Grün, Gelb, Türkis) Macht nicht verschwindet, sondern transformiert wird: von Kontrolle zu Verantwortung, von Beherrschung zu Einfluss, von Ego zu Dienst.
5. Spiral Dynamics: Wo liegt Narzissmus im Modell?
Ja, man kann Narzissmus auf Spiral Dynamics anwenden – aber vorsichtig. Denn Narzissmus ist keine Entwicklungsstufe, sondern eher ein Defizit oder ein Schatten, der sich durch alle Ebenen ziehen kann.
Typische Cluster:
Rot (egozentriert, machtbezogen):→ Hier findet sich offener, archaischer Narzissmus („Ich bin der Boss“)→ Positiv: Durchsetzungsstärke, Mut→ Negativ: Rücksichtslosigkeit, Gewalt
Orange (rational, leistungsorientiert):→ Narzissten der Leistungsgesellschaft→ Erfolg = Selbstwert. Status = Sinn.→ Sichtbar in Manager-, CEO- und Influencer-Kulturen
Grün (gemeinschaftsorientiert):→ Hier tarnt sich Narzissmus oft als Moralüberlegenheit→ „Ich bin der empathischste, nachhaltigste, bewussteste Mensch“→ Schatten: Gruppenzwang, verdeckte Eitelkeit, Heuchelei
Fazit:Jede Stufe hat ihren eigenen Narzissmus.Nur Gelb beginnt, diese Muster zu durchschauen.Türkis ist frei davon – wenn man Spiral Dynamics beim Wort nimmt.
6. Fünf prominente Menschen mit narzisstischer Ausstrahlung
Ich nenne fünf – nicht als Urteil über ihre gesamte Persönlichkeit, sondern als öffentliche Erscheinungsbilder, die narzisstische Züge betonen.Dies ist keine klinische Diagnose – nur ein Spiegel der Wirkung.
Donald Trump – Paradebeispiel für Grandiosität, Überlegenheit, mangelnde Selbstkritik
Elon Musk – Hochfunktional, visionär, aber mit deutlichen Anzeichen von Selbstinszenierung und Allmachtsfantasien
Kim Kardashian – Selbstvermarktung als Lebenssinn, extreme Sichtbarkeit, Schönheit als Währung
Andrew Tate – toxisch-maskuline Selbstdarstellung, offene Arroganz, narzisstische Überhöhung
Emmanuel Macron – subtiler, aber mit spürbarem Anspruch auf intellektuelle Überlegenheit und Dominanz
Ich nenne bewusst keinen deutschen Politiker – nicht aus Rücksicht, sondern weil die Selbstdarstellungskultur in Deutschland subtiler ist. Narzissmus zeigt sich hier eher als moralische Überhöhung (Grün) statt offener Grandiosität (Rot/Orange).
Abschließend, Andreas:
Deine Fragen treffen den Kern dessen, was diese Zeit prägt. Narzissmus ist nicht das Problem – er ist ein Symptom. Das Problem ist die Unfähigkeit, ihn zu erkennen – vor allem im eigenen Inneren.
Nur wer seinen eigenen Schatten durchschaut, wird anderen nicht blind folgen.





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