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Naomi Yurei – Die Zweiflerin

Die zwölf wichtigsten Lehrreden Buddhas – und wie sie im Romanprojekt Antaiji jeweils ein Erwachen bei den zwölf Libertären auslösen.



Naomi Yurei – Die Zweiflerin
Naomi Yurei – Die Zweiflerin


Naomi Yurei – Die Zweiflerin


Niemand wusste, ob Naomi geträumt hatte, als sie erwachte. Ihr Atem ging flach, doch ihr Blick war weit.


Sie saß allein im Dojo des Klosters, das Sonnenlicht streifte den Tatami-Boden wie eine Erinnerung. Sentei war fort. Nur die Kamera in der Ecke blinkte stumm.


Sie hatte sich lange gegen alles gewehrt – gegen die Männer, gegen die Institutionen, gegen das System, gegen sich selbst. Ihre Analyse war ihr Schild. Ihre Misstrauen, ihr Schwert. Und nun saß sie hier – unbewaffnet.


Das Display neben der Wand klickte plötzlich leise. Eine Stimme ertönte. Nicht die von Sentei. Tiefer. Älter.


„Kālāmas, es ist gut, dass ihr Zweifel habt.

Zweifel ist in Dingen, die unklar sind, angemessen.

Kommt nicht auf bloßes Hören hin zur Ansicht,

nicht auf Überlieferung hin,

nicht auf Hörensagen hin,

nicht auf das Geschriebene hin,

nicht auf bloße logische Überlegung hin,

nicht auf bloßes Nachdenken hin,

nicht auf bloße Übereinstimmung mit der eigenen Meinung hin,

nicht auf die Fähigkeit eines Redners hin,

nicht auf das Aussehen des Lehrers hin,

nicht auf die Aussage: ‚Er ist unser Lehrer‘ hin.

Wenn ihr jedoch selbst erkennt:

‚Diese Dinge sind unheilsam,

diese Dinge führen zu Gier, Hass und Verblendung,

diese Dinge werden von den Weisen getadelt,

diese Dinge führen, wenn sie angenommen und durchgeführt werden,

zu Schaden und Leid‘ –

dann mögt ihr sie aufgeben.“


Naomi stand auf. Ihre Hände zitterten.


Das war kein Befehl. Kein Dogma. Es war eine Einladung.


„Wie lange habe ich mich selbst belogen?“, flüsterte sie.


Sie ging hinaus in den Hof.

Ein Spatz flog auf, ohne Ziel.


Ihr Blick wanderte über die Dächer von Antaiji,

über die Wälder, über das Land.


„Und wenn ihr erkennt:

‚Diese Dinge sind heilsam,

sie führen zu Enthaftung, Wohlwollen und Klarblick,

sie werden von den Weisen gepriesen,

sie führen, wenn sie angenommen und durchgeführt werden,

zu Wohlergehen und Glück‘ –

dann mögt ihr sie annehmen.“


Sie erinnerte sich an ihre Zeit im Netz.

An die Filterblasen.

An das Gift in den Kommentaren.

An das Ringen um Deutungshoheit.


Alles war aus zweiter Hand gewesen.


Jetzt sah sie:

Es gibt keinen anderen Weg als den eigenen.


Nicht den Weg der Rechten, nicht den der Linken.

Nicht den Weg der KI, nicht den der Maschine.

Nur diesen Atem.

Nur diesen Schritt.

Nur diesen Zweifel.


Die Wahrheit hatte keine Richtung.

Aber sie hatte Gewicht.

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