Depression und Spiritualität – Eine Begegnung mit dem Abgrund
- Sentei

- 16. Juni
- 2 Min. Lesezeit

Ich habe in einem Praktikum viele Menschen gesehen, die an einer Depression litten.
Und viele von ihnen sprachen vom Göttlichen. Von Sehnsucht. Von Licht. Von Sinn.
Zuerst wirkt das paradox:
Wie kann jemand, der kaum aus dem Bett kommt, von Erwachen reden?
Wie kann jemand, der keinen Appetit mehr hat, Hunger nach Wahrheit verspüren?
Aber vielleicht ist es kein Widerspruch.
Vielleicht ist es genau das, was passiert,
wenn das alte Selbst stirbt – und das neue noch nicht geboren ist.
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Der Riss im Ich
Eine Depression ist keine Traurigkeit.
Sie ist der Moment, in dem das bisherige Selbstbild zusammenbricht.
Nicht laut. Nicht dramatisch. Sondern leise, innerlich, zersetzend.
Die Stimme, die einst sagte: „Ich weiß, wer ich bin“ – sie schweigt.
Übrig bleibt: eine Hülle. Ein Echo. Eine Form ohne Inhalt.
Und genau hier beginnt oft der Ruf nach etwas Größerem.
Nicht aus Luxus. Nicht aus Langeweile. Sondern aus Not.
Spirituelle Suche beginnt oft nicht mit Licht – sondern mit Dunkelheit.
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Die Verwechslung
Doch diese Suche ist gefährlich, wenn sie nicht ehrlich ist.
Denn Spiritualität kann zur Flucht werden.
Zur Flucht vor Schmerz, vor Verantwortung, vor der eigenen Geschichte.
Dann sprechen Menschen von „Ego-Tod“, obwohl sie nicht mal wissen, wer sie waren.
Sie reden von „Nicht-Selbst“, ohne je ein stabiles Selbst entwickelt zu haben.
Sie lesen Sätze von Buddha oder Rumi – aber fühlen sich leerer denn je.
Das nennt man „Spiritual Bypassing“.
Es ist wie Parfum auf eine offene Wunde.
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Der wahre Weg
Und doch – manchmal, ganz selten, führt der Weg durch die Depression.
Nicht darum herum. Nicht darüber hinweg. Sondern mitten hindurch.
Wer durch diesen Tunnel geht, ohne sich zu betäuben,
ohne sich zu retten in Konzepte, Bücher, Dogmen –
der kann etwas erkennen, das mit Worten kaum noch zu greifen ist.
Eine Form von Frieden, die nicht auf Glück basiert.
Ein Sinn, der ohne Bedeutung auskommt.
Ein Licht, das durch nichts zu löschen ist,
weil es nicht leuchtet – sondern leer ist.
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ICD-10 interessiert das nicht
Die Medizin sagt: F32.0 – depressive Episode.
Sie zählt Symptome. Schreibt Rezepte.
Und ja, das ist oft richtig und notwendig.
Aber die Medizin fragt nicht:
Wer bist du, wenn du nichts mehr fühlst?
Was bleibt, wenn alles fällt?
Die Depression ist dann nicht nur ein Ungleichgewicht im Serotoninhaushalt.
Sie ist vielleicht ein spiritueller Geburtskanal,
in dem das alte Ich stirbt – aber das neue Ich noch nicht weiß, wie es atmen soll.
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Der Zwischenraum
Zwischen Pathologie und Erwachen liegt ein Niemandsland.
Ein Raum, in dem kein Arzt hilft, kein Guru rettet.
Ein Raum, in dem du nackt bist.
Ohne Konzept. Ohne Maske. Ohne Hoffnung.
Aber vielleicht – ganz vielleicht – ist dieser Raum genau der Ort,
an dem etwas geschieht, das keine Diagnose kennt.
Und keine Religion. Und keine Technik.
Etwas, das einfach still ist.
So still, dass du es fast überhörst.





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